Dessye Derbe, Shiworke Habtewold und zwei weitere Kolleginnen halten sich vertraut in den Armen und strahlen. Sie stehen vor einem Hauseingang.

Frauenpower in Gorbela

Frauenpower in Gorbela

Starthilfe für Gründerinnen

Viele Frauen im ländlichen Äthiopien verfügen kaum über eigenes Einkommen, sind von ihren Männern abhängig. Im Bezirk Ankober haben sie sich zusammengetan, sparen gemeinsam und leihen einander Geld, wenn sich eine von ihnen selbstständig macht. Doch die Darlehen reichen oft nicht einmal für die ersten Investitionen. Menschen für Menschen unterstützt die Frauen mit Mikrokrediten und Trainings, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Geschäftsideen umzusetzen.

Der Weg zur Selbstständigkeit

Shiworke Habtewold eilt über den Rasen. Die Enden des roten Tuchs, das sie um den Kopf gebunden hat, wippen bei jedem Schritt. Die 25-Jährige holt ihr Teffmehl an der Getreidemühle ab. Sie hatte die Hirse vor einigen Stunden hier abgegeben, um sie mahlen zu lassen. Shiworkes Sohn Bereket hüpft aufgeregt neben ihr.

Shiworke Habtewold holt das Teffmehl ab. Neben ihr steht ihr Sohn, ein weiteres Kind, die Sozialarbeiterin Melat Bekele und eine Kollegin. Sie stehen draußen auf dem Rasen, vor einer Hütte
Shiworke Habtewold spricht mit der Sozialarbeiterin Melat Bekele, während sie und ihr Sohn Bereket Teffmehl tragen.

Shiworke lebt in einem Vorort von Gorbela, der Hauptstadt des Bezirks Ankober, rund 170 Kilometer nordöstlich von Addis Abeba. Aus dem Mehl wird sie Brot backen und Injera. Die säuerlichen Fladen bietet sie in ihrem Café, das Brot im Kiosk an, der Teil ihres kleinen Wohnhauses ist. In den Regalen des Ladens liegen außerdem Waschmittel, Streichhölzer, ein paar Bonbons. „Eine große Auswahl habe ich nicht“, sagt Shiworke und beißt sich auf die Unterlippe. „Mir fehlt das Geld, um mehr Produkte einzukaufen.“ Im Schnitt verdient sie umgerechnet etwa elf Euro am Tag, abzüglich der Investitionen. Ihr Mann Kifle verdingt sich als Tagelöhner. Das kleine Einkommen muss für die beiden, Bereket und für Shiworkes Mutter reichen, die bei ihnen lebt. Eigenes Ackerland hat das Ehepaar nicht. Dass sich Shiworke überhaupt selbstständig machen konnte, liegt an der Unterstützung anderer Frauen – und an drei Schafen. Als Teenager erhielt Shiworke die Tiere von einer lokalen Hilfsorganisation. Die Lämmer, die ihr die Schafe schenkten, verkaufte sie und verdiente so ihr erstes eigenes Geld. Ihre Familie hatte es bitter nötig. Vier ihrer sechs Geschwister waren innerhalb kürzester Zeit schwer erkrankt, sie starben. Ebenso ihr Vater. Neben dem Schulunterricht und ihrer kleinen Schafzucht verkaufte Shiworke Tee auf der Straße. So unterstützte sie ihre Mutter und einen ihrer älteren Brüder, der eine weiterführende Schule besuchte. „Meine eigenen Noten litten“, erinnert sich Shiworke. Nach der achten Klasse brach sie die Schule ab.

Zuvor hatte sie sich mit anderen Mädchen, die ebenfalls Schafe erhielten, zusammengeschlossen. Sie wollten gemeinsam sparen, auch um sich gegenseitig unterstützen zu können. Shiworke nutzte die Hilfe der Gruppe und erwarb zunächst weitere Schafe. Mit den Erlösen aus dem Verkauf der Lämmer eröffnete sie schließlich ihr Café, kaufte Sitzmöbel, Softdrinks. Wenig später folgte der Kiosk.

Shiworke Habtewold steht in ihrem Kiosk und präsentiert eine Box voller Süßigkeiten
Shiworke Habtewold präsentiert ihre Süßigkeitenauswahl in ihrem Kiosk.

Gewachsene Gemeinschaft

Aus den Mädchen von damals wurden Frauen – die Gruppe gibt es heute noch. Shiworke ist ihre Schriftführerin. Sie ist eine der wenigen, die lesen und schreiben kann. Treffen sich die mittlerweile 50 Frauen einmal im Monat, notiert sie, wer anwesend ist und die umgerechnet 40 Cent Monatsgebühr entrichtet. Die Verantwortung macht sie stolz, doch „es fehlt uns an allem“, sagt Shiworke. Papier und Stifte musste sie zuletzt selbst bezahlen. Da sie kein eigenes Büro haben, treffen sich die Frauen in den Räumen der Bezirksverwaltung, händigen dort ihre Kleinstkredite von nicht einmal 20 Euro aus. Die Pandemie hat die Situation der Frauen noch verschärft. „Als die ersten Corona-Fälle in Äthiopien bekannt wurden, kam niemand mehr in mein Café“, erinnert sich Shiworke. Ein schwerer Schlag. „Umso mehr freue ich mich, dass wir nun Unterstützung bekommen“, sagt sie und schaut zu Melat Bekele, die sie wie jede Woche besucht

Die 24-Jährige arbeitet als Sozialarbeiterin für Menschen für Menschen. „Ich finde es sehr wichtig, Frauen zu fördern. Sie tragen in unserem Land noch immer eine große Last“, sagt Melat. Obwohl die Geschlechter in Äthiopien offiziell als gleichberechtigt gelten, sind Frauen, vor allem auf dem Land, wirtschaftlich und gesellschaftlich extrem benachteiligt. Häufig sind sie finanziell von ihren Ehemännern abhängig.

Sozialarbeiterin Melat Bekele und Shiworke Habtewold sitzen zusammen in einer Besprechung
Sozialarbeiterin Melat Bekele notiert sich die wichtigsten Punkte aus ihrem Gespräch mit Shiworke Habtewold.

Bevor sie ihren Kredit von je 10.000 Birr, umgerechnet etwa 180 Euro, erhalten, lernen die Frauen in mehrtägigen Trainings die wichtigsten betriebswirtschaftlichen Grundlagen: Buchhaltung, Ratenzahlungen, Geschäftspläne. Bisher haben die meisten Mitglieder der Frauengruppe ein Café oder eine Bar eröffnet – und würden so miteinander konkurrieren. Mit dem deutlich höheren Darlehen bekommen die Frauen nun die Chance, tatsächlich erfolgreich ein Geschäft zu gründen. Was Frauen mit dem Training und der finanziellen Förderung erreichen können, lässt sich in anderen Projektgebieten von Menschen für Menschen sehen. Über 30.000 Gründerinnen wurden bisher unterstützt, einige schicken ihre Kinder mittlerweile auf bessere Schulen, bauen sich neue Wohnhäuser oder sogar mehrstöckige Geschäfte. Viele der Kreditgemeinschaften sind heute finanziell unabhängig von der Stiftung.

Gesellschaftliche Veränderung

Einige Tage später: Shiworke sitzt auf einer Bank, im Raum duftet es nach frisch geröstetem Kaffee, aus kleinen Lautsprechern jault äthiopischer Pop. Es ist die Bar von Dessye Derbe. Sie ist wie Shiworke Teil des Leitungskomitees der Frauengruppe. „Wir sollten darüber sprechen, wen wir als nächstes unterstützen“, sagt Shiworke. Die anderen Frauen des Komitees nicken, beginnen Namen aufzuzählen.

Dessye zerschlägt mit einem Mörser die Kaffeebohnen. Sie selbst hat erst vor acht Monaten einen Kredit erhalten. Zusätzlich lieh sie sich Geld von Verwandten und Freunden. Sie mietete zwei Zimmer an: In einem schläft und kocht sie. In dem anderen hat sie ihre Bar eröffnet. Einst jobbte sie in Addis Abeba in einer Bäckerei, dann führte sie ihr eigenes kleines Straßencafé. Doch nach ihrer Hochzeit hatte sie die Selbstständigkeit aufgegeben.

Dessye Derbe sitzt in ihrer Bar und lächelt. Vor ihr liegt ein Kaffeeset, rechts von ihr ist ein Regal mit Getränken und Gläsern
Dessye Derbe lächelt und präsentiert stolz ihre Bar.

„Das bereue ich sehr“, sagt die 26-Jährige. Bereits nach kurzer Zeit kriselte es in der Ehe. Dessyes Ehemann log sie an, versteckte Geld vor ihr.

Hoffnungsvolle Zukunft

„Das wollte ich mir nicht länger gefallen lassen und ließ mich scheiden“, sagt Dessye. Plötzlich stand sie vor dem Nichts. „Ich bin sehr froh, dass mir die anderen beigestanden haben.“ Ob Nachwuchs, Todesfall, Scheidung – die Frauen sind füreinander da. Sie helfen sich beim Kochen oder im Haushalt, kümmern sich um ältere Familienmitglieder. Die Solidarität ist groß. Mit der Unterstützung der Stiftung soll es für die Frauen nun bald auch wirtschaftlich aufwärtsgehen. Shiworke hofft, dass sie dann besser für ihre Familie und vor allem für ihren Sohn Bereket sorgen kann. „Ich wünsche mir ein weiteres Kind, aber aktuell können wir uns das nicht leisten“, sagt sie. Diese Entscheidung, die sie dazu noch mit ihrem Ehemann gemeinsam getroffen hat, ist ungewöhnlich im ländlichen Äthiopien. Frauen bekommen dort im Schnitt fünf Kinder, mehr als doppelt so viele wie in den Städten. Doch Shiworke versteht, dass es besser ist, zunächst die eigene Situation zu verbessern, um weniger Kindern dann mehr bieten zu können. Dass ihr Sohn Bereket, wie sie, bereits als Kind arbeiten und Geld verdienen muss, möchte sie unbedingt verhindern. „Er soll sich aufs Spielen und die Schule konzentrieren.“

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