Zwanzig Minuten für ein neues Leben
Schwerpunkt: Gesundheit
Zwei Brüder, ein Schicksal: Lakew und Abiye Ganfur sind blind. Sie leiden am Grauen Star. So wie viele Hundertausende Äthiopier. Die Krankheit ist heilbar. Doch es fehlt an Augenärzten, vor allem auf dem Land. Daher organisiert Menschen für Menschen dort Operationen.
Lakew Ganfur beugt sich nach vorne, nach hinten. zieht die Augenbrauen hoch. “Wie viele Finger zeige ich dir?”, fragt Tiringo Hibiste und hält ihm ihren Zeigefinger vors Gesicht. “Fünf” krächzt der 78-Jährige. Es ist geraten, denn ihre Hand kann er nicht sehen. Lakew ist auf beiden Augen am Grauen Star erkrankt und nahezu komplett blind. Wenig später ist der nächste Patient an der Reihe. Es ist Abiye Ganfur. Lakews älterer Bruder. Auch er vor einem Jahr erblindet.
Die Krankheit verläuft schleichend. Über Monate oder Jahre nimmt die Trübung der Linsen zu – als würde sich ein immer dichterer Nebel vor das Auge der Betroffenen schieben. Bei Lakew fing es vor sechs Jahren an. “Hab’ nie geglaubt, dass ich eines Tages blind sein werde”, sagt er. Zwei Tage – zu Fuß und mit Kleinbussen – sind die Brüder von ihrem Zuhause nach Mekane Selam zur Zentrale von Menschen für Menschen im Projektgebiet Borena gereist. Hier soll ihrem Leiden ein Ende gesetzt werden.
Fehlende Augenärzte
So wie Abiye und Lakew geht es vielen Menschen in Äthiopien. Das Land hat eine der höchsten Blindenrate der Welt. Laut der Hilfsorganisatoin Licht für die Welt sind etwa 2,4 Prozent der Bevölkerung am Grauen Star erkrankt. Er ist nach der Trachomerkrankung die zweithäufigste Ursache für Erblindung.
Grauer Star kann durch eine Routineoperation geheilt werden. Doch mangelt es, wie in vielen afrikanischen Staaten, an medizinischem Personal: Laut WHO ist ein Augenarzt in Afrika statistisch gesehen für eine Million Menschen zuständig, in Deutschland für rund 13.000. Die überwiegende Anzahl praktiziert in den großen Städten wie Addis Abeba. Für Menschen in entlegenen Gebieten sind sie oft unerreichbar. Zu weit die Reise, unerschwinglich der Transport, die Unterkunft in der Stadt und die Kosten für die Operation.
Um ihnen dennoch eine Chance auf eine Heilung zu geben, organisiert Menschen für Menschen mehrmals im Jahr kostenlose Operationen. Mitarbeiter wie Tiringo Hibiste kontrollieren bei einer Voruntersuchung, ob die Patienten tatsächlich an Grauem Star leiden oder beispielsweise an der bakteriellen Infektion Trachom. Die kann die Krankenschwester selbst behandeln. Die Operation am Grauen Star führt ein dafür ausgebildeter Augenarzt, wie Fekadu Kassahun, durch. Neben seinem Job in einem Krankenhaus in der Hauptstadt arbeitet er mit der Äthiopienhilfe zusammen. Die Stiftung bezahlt dem Arzt und seinen Helfern ein Tagegeld, die Linsen und das benötigte medizinische Material wie Nadeln, Watte und Desinfektionsmittel. Für Transport und Logis kommen die Regierung und das Krankenhaus auf. Im ersten Halbjahr 2019 konnte Menschen für Menschen so 593 Graue Star-Operationen ermöglichen.
Bevor er zum ersten Mal in ein Projektgebiet kommt, müssen Mitarbeitende der Stiftung auf die anstehende Möglichkeit von Operationen hinweisen. “Die Menschen wissen oft nicht, woran sie erkrankt sind und dass wir ihnen helfen können”, erklärt Fekadu. “Mittlerweile kennen viele jemanden, den wir heilen konnten.” So war es auch bei Abiye und Lakew. Ein Mann ihrer Kirchengemeinde gewann durch die Operation sein Augenlicht zurück.
“Wir sind sicher, dass wir in guten Händen sind”, sagt der 85-jährige Abiye. Zunächst hatte er seinen jüngeren Bruder getröstet, der nach und nach immer schlechter sehen konnte. Als er vor vier Jahren ebenfalls merkte, dass sich seine Sicht eintrübt, bekam er große Angst. “Ich wollte nicht so enden wie er”, erinnert sich Abiye. “Oft habe ich mich gefragt, was wir als Familie falsch gemacht haben, warum wir so verflucht wurden.”
Die beiden Brüder haben ihr Leben miteinander verbracht. Als Kinder waren sie zusammen jagen, später erzählten sie sich von ihrem ersten Kuss, und obwohl beide heirateten und Kinder bekamen, leben sie auf demselben Grundstück. Von ihrer gemeinsamen Ernte sind ihre Familien abhängig.
Zuletzt mussten ihre Kinder die Arbeit auf dem Feld erledigen. Zur Operation begleitet sie Abiyes Sohn Fentahun. Gehen die drei über das Gelände der Projektzentrale, geht er voran. Abiye und Lakew hinterher, den Schal des Vordermannes umklammert. “Ich kann kaum erwarten, das Gesicht dieses Mannes wiederzusehen”, sagt Abiye. Lakew lacht. Beide werden zuerst an einem Auge operiert. Für das andere müssen sie noch einmal wiederkehren.
Nicht zu lange warten
Abiye und Lakew hatten Glück, ihr Grauer Star kann noch behandelt werden. Schreitet die Krankheit schneller voran oder bleibt sie über lange Zeit unbehandelt, kann der Augeninnendruck steigen. Aus dem Grauen wird so ein Grüner Star, der den Sehnerv irreparabel schädigt. So wie bei der 85-jährigen Debre Marsha. Vor sechs Jahren trübten sich ihre Augen, dazu bekam sie eine Infektion. Zum Arzt ging sie nie.
Sie ist mit ihrem elfjährigen Enkel Melese Amare gekommen. Er steht neben ihr, als ihr die Krankenschwester Terengo die schlechten Nachricht überbringt: “Wir können leider nichts mehr machen”, sagt sie ruhig. Debre schluckt, ihr Oberkörper sackt in sich zusammen. “Ich wollte doch wieder sehen können”, flüstert sie.
Melese stützt sie beim Aufstehen. Mit seinem jüngeren Bruder kümmert er sich auch sonst um seine Großmutter, bringt sie auf die Toilette, hilft ihr, sich zu waschen, beleitet sie zur Kirche. Durch die Betreuung schafft er es häufig nicht pünktlich zum Unterricht, lässt ihn sogar immer wieder ausfallen. “Ich hatte so gehofft, dass sie wieder sehen kann”, sagt er. “Dann hätte ich regelmäßiger zur Schule gehen können.”
Hoffnung auch für die Jüngsten
Alter ist der Hauptgrund für Grauen Star. Doch auch andere Krankheiten wie Diabetes oder eine Verletzung können die Augentrübung zur Folge haben. Auch eine Zwölfjährige ist unter den Patienten in Borena.
Wie jedes Wochenende ging Emam Set Aytenew vor einem Jahr in den Wald, sammelte Feuerholz für ihre Familie. Doch die Äste und Sträucher vom Boden waren alle bereits aufgesammelt. Also kletterte sie auf einen Baum. Sie rutschte ab und ein Ast schlug ihr ins linke Auge. Trotz Schmerzen konnte sie mit eigener Kraft nach Hause taumeln. Drei Wochen nach dem Unfall verschlechterte sich ihre Sehkraft, immer mehr trübte sich ihre Linse ein.
“Ich möchte endlich wieder richtig schreiben können”, sagt Emam Set, die einmal Lehrerin werden möchte. Sie besucht die 5. Klasse. Zwar konnte sie die Schrift in Arbeitsheften und auf der Tafel noch lesen, doch beim Schreiben auf einer Linie musste ihre beste Freundin ihr helfen. Als ihr Onkel auf dem Markt erfuhr, dass Menschen für Menschen die Operation in Borena anbietet, machte sich Emam Set auf den Weg.
Unter den Augen von Karlheinz Böhm
“Mitzubekommen, wie glücklich die Menschen sind, wenn sie wieder sehen können, entschädigt für alle Strapazen”, sagt Fekadu, der in Borena täglich hoch konzentriert bis zu 25 Patienten operiert. “Ganz besonders, wenn es Kinder sind, die nach der Operation wieder zur Schule gehen können.”
Zwanzig Minuten, mehr braucht er nicht, um Abiye, Lakew, Emam Set jeweils ein neues Leben zu schenken. Unter den Augen von Karlheinz Böhm, dessen Portrait in dem Operationssaal an der Wand hängt, schaut Fekadu durch ein Mikroskop auf das Auge.
Er setzt einen kleinen Schnitt in der Hornhaut. Durch den Zugang kann er die trübe Linse zerkleinern, absaugen und durch eine Kunstlinse ersetzen. Mit einem Augenverband werden seine Patienten wieder in die Obhut ihrer Angehörigen übergeben. Sie sollen sich ausruhen. Bis zum nächsten Morgen.
Noch bevor die Kälte der Nacht verflogen ist, sitzen 25 Menschen dicht nebeneinander auf der Bank vor dem Behandlungszimmer. Terengo zieht die erste Augenbinde ab, dann die nächste und die nächste. “Ich kann sehen!”, platzt es aus Abiye hervor. Überwältigt von dem zurückgewonnenen Augenlicht lachen und klatschen die Patienten. Ein älterer Mann bricht in Freudentränen aus. Er reißt die Arme in die Höhe, betet. Wie bei der Voruntersuchung lässt die Krankenschwester Terengo die Männer und Frauen sagen, wie viele Finger sie ihnen entgegen streckt. Lakew ist an der Reihe. “Fünf” ruft er. Dieses Mal stimmt es.