Wieder zu Hause angekommen, machte ich mir weiter Gedanken um das Thema soziale Distanz in Äthiopien. Mir wurde immer mehr klar, dass dies ein Privileg von wenigen ist, die es sich leisten können, sich sozial zu isolieren. Es gibt einen nicht unsignifikanten Anteil an Leuten hier in Äthiopien, die jeden Tag das Haus verlassen müssen, um überhaupt etwas zu essen zu haben oder ihrer (systemrelevanten) Arbeit nachzugehen.
Aber auch in den eigenen vier Wänden ist es fast unmöglich, soziale Distanz zu wahren. Mehrere Generationen wohnen meist auf engstem Raum zusammen, ein Äthiopier hat nur wenige Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. In der äthiopischen Kultur ist körperliche Distanz ein Fremdwort: Die Menschen berühren sich beim Begrüßen ausgiebig, halten aus Zuneigung Händchen oder essen von einem gemeinsamen Teller, wenn sie freundschaftlich verbunden sind.
Weiterhin gibt es keinen starken Sozialstaat, der alle die auffängt, die von so einer Krise betroffen werden. Es ist sehr schwer – wenn nicht gar unmöglich – eine Stadt wie Addis Abeba in einen “Lockdown-Modus” zu versetzen. Die Menschen müssen hier miteinander agieren, damit der Laden sprichwörtlich am Laufen bleibt.”