Strahlende Teilnehmerin eines Alphabetisierungskurses.
Icon des Schwerpunktes Bildung

Späte Chance auf Bildung

Abgeschlossenes Projektgebiet Borena (2011 - 2023)
Schwerpunkt: Bildung

In Äthiopien können rund 50 Prozent aller Menschen, die 15 Jahre oder älter sind, nicht lesen und schreiben. Das hemmt die Entwicklung des Landes, weil den Menschen die Basis dafür fehlt, sich Wissen selbst anzueignen. Die Alphabetisierungskurse von Menschen für Menschen helfen, das Bildungsniveau zu steigern.

Tiringo Maschaw ist erst 29 Jahre alt und schon vom Leben gezeichnet. Um ihre leuchtenden Augen haben sich Falten in die Haut gegraben, ihre Hände sind rau von der Arbeit. Seit ihrer Kindheit schuftet sie in der Landwirtschaft. Mit sieben Jahren trieb sie das Vieh auf die Weide, mit neun holte sie Wasser von der Quelle, mit zehn packte sie bei der Ernte mit an.

„Unsere Eltern hätten mich und meine Geschwister gerne zur Schule geschickt. Aber wir waren sehr arm. Wir mussten arbeiten“, erzählt sie. Anfangs sei sie neidisch gewesen, dass andere Kinder im Dorf mit Heften und Büchern unterm Arm zur Schule marschierten, während sie mit einer Rute in der Hand die Herde antrieb oder schwere Kanister schleppte. „Irgendwann habe ich das akzeptiert.“

Den Teufelskreis durchbrechen

Als Tiringo zwölf Jahre alt war, lernte sie einen Jungen aus dem Dorf kennen. Er war ein paar Jahre älter als sie, die beiden trafen sich heimlich. Wenig später war Tiringo schwanger. „Als meine Tochter zur Welt kam, war ich sehr glücklich. Aber mit der Zeit wurde mir klar, was es für mich bedeutete, so jung Mutter zu werden.“

Ein Lehrer schreibt auf eine Tafel.
"Wer lesen, schreiben und rechnen kann, tritt selbstbewusster auf" Lehrer Beyene Tadesse im Dorf Menejeba

Während andere Kinder im Dorf die Welt auch spielend und lernend erkunden konnten, musste sie Verantwortung übernehmen wie eine Erwachsene. „Ich bin stolz auf das, was ich geleistet habe“, sagt sie. „Aber der Preis war hoch: Ich habe nie lesen und schreiben gelernt.“

Biografien wie die von Tiringo Maschaw sind in Äthiopien und anderen Entwicklungsländern keine Seltenheit. Der Weltbildungsbericht der UNESCO 2016 zeigt: Etwa 758 Millionen Menschen auf der Welt sind Analphabeten, fast zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Bereits 1966 haben die Vereinten Nationen mit der Einführung des „Weltalphabetisierungstags“, der jährlich am 8. September stattfindet, auf das globale Problem hingewiesen. Seither hat sich die Situation verbessert, doch bis heute ist mangelnde Bildung ein Problem in Entwicklungsländern.

Der größte Anteil der Analphabeten verteilt sich auf nur zehn Länder, zu denen auch Äthiopien gehört: Rund 50 Prozent aller Menschen im Land, die 15 Jahre oder älter sind, können weder lesen noch schreiben. Viele Kinder müssen auf dem Feld mit anpacken, andere sind zu schwach für den weiten Fußmarsch zur nächsten Schule. Eine Folge von Mangelernährung. Viele Mädchen verpassen während ihrer Menstruation den Unterricht. Sie bleiben zu Hause, weil ihnen Wechselwäsche und Binden fehlen.

Auch Traditionen können ein Bildungshemmnis sein: In ländlichen Regionen, wo die Menschen das Überleben ihrer Familien seit Generationen mit den bloßen Händen sichern, gilt Schulbildung zum Teil als überflüssig. Warum die Zeit mit Büchern verschwenden, wenn das Getreide reif ist? Auf diese Weise pflanzt sich der Mangel an Bildung immer weiter fort.

Wie schwierig es ist, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, zeigt sich im Dorf Menejeba in der zentraläthiopischen Region Borena. In einem einfachen Holzhaus mit Wellblechdach steht Beyene Tadesse vor einer Klasse. Seine Hände sind voller Kreidestaub, gerade hat er etwas an die Tafel geschrieben. “Kebede kauft sich eine Hose”, liest er vor. “Bitte übertragt den Satz in eure Hefte”, sagt Beyene.

Die rund 70 Schüler sind hoch konzentriert, nur ihre kratzenden Bleistiftminen durchbrechen die Stille im Raum. Auch Tiringo Maschaw müht sich, die Worte aufs Papier zu bringen. Sie gehört zu den jüngeren Schülern hier. Viele Frauen und Männer sind weit über 60 Jahre alt. Manche sitzen zum ersten Mal auf einer Schulbank.

Wie Adamasu Ali: Der 68-Jährige mit dem silbergrauen Haar ist der älteste Schüler im Alphabetisierungskurs von Menejeba. Aufmerksam folgt er den Lektionen an diesem Tag. Was die Schule für ihn bedeute? “Ich lerne die Welt noch einmal neu kennen”, sagt Adamasu. Seit er ein wenig lesen und schreiben kann, spüre er eine nicht gekannte Unabhängigkeit, vor allem auf dem Wochenmarkt: Als Verkäufer von Getreide und Eiern an seinem eigenen Stand – und als Kunde an anderen Ständen.

“Früher musste ich mir alles von Freunden und Bekannten vorlesen und vorrechnen lassen”, sagt er. Welcher Preis ist fair? Wer gibt Rabatte? Als Analphabet ohne Kenntnisse im Umgang mit Zahlen habe er ständig Angst gehabt, betrogen zu werden. “Das ist jetzt vorbei.”

Adamasu Ali lernt mit 68 Jahren lesen und schreiben.

Seit rund fünf Jahren bietet Menschen für Menschen in der Projektregion Borena funktionale Alphabetisierungskurse für Erwachsene an. Wer gar nicht lesen und schreiben kann, beginnt mit dem Grundkurs. Nach einem bestandenen Test wechseln die Teilnehmer zu den Fortgeschrittenen. “Rund 80 Prozent bestehen die Prüfung beim ersten Mal”, erzählt Kursleiter Beyene stolz. Die Nachfrage ist seit Jahren ungebrochen: Derzeit besuchen rund 1.300 Erwachsene in Menejeba und den umliegenden Dörfern einen Alphabetisierungskurs. “Drei Mal pro Woche ist Unterricht”, berichtet Beyene.

Anfangs verzweifeln viele

Die hohe Frequenz soll auch die Fehlzeiten ausgleichen: „Die Menschen arbeiten hart, um bescheiden leben zu können. Deshalb muss man verstehen, dass die Feldarbeit schon mal vorgeht.“ Und jene, die erscheinen, seien mit den Gedanken oft bei ihrem Vieh oder der bevorstehenden Ernte, so Beyene.

Ein sehr gut besuchter Alphabetisierungskurs.
Schülerinnen und Schüler des Alphabetisierungskurses im Dorf Menejeba.

„Will man es ihnen verübeln? Wie wertvoll Wissen ist, erkennen sie oft nicht sofort.” Vor allem am Anfang, wenn Beyene die Grundlagen der amharischen Silbenschrift lehrt, verzweifeln viele seiner Schülerinnen und Schüler fast. Umso glücklicher ist er, wenn sie dranbleiben. Denn wer die erste Durststrecke übersteht, profitiert unmittelbar: “Die Texte, die wir lesen, vermitteln wertvolles Wissen – von Hygiene über Gesundheit bis zur Landwirtschaft.” Ein Lehrplan, der zeigt, wie eng Alphabetisierung und persönliche Entwicklungschancen miteinander verknüpft sind. “Wer lesen und schreiben kann, ist in der Lage, sich selbst neue Fähigkeiten anzueignen und tritt selbstbewusster auf”, weiß Lehrer Beyene.

Teil der Gesellschaft werden

Tiringo Maschaw sagt, als Kind sei es ihr egal gewesen, dass Buchstaben für sie keinen Sinn ergaben. “Doch als meine Tochter anfing, mir Verpackungsaufschriften vorzulesen, war mir das unangenehm.” Später zogen ihr Onkel und ihre Schwester nach Addis Abeba und wollten mit ihr per SMS in Kontakt bleiben. Doch Tiringo hatte Angst vor der fremden Welt aus Worten und Zahlen.

Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Alphabetisierungskurses.
Funktionale Alphabetisierung vermittelt neben Kenntnissen im Lesen, Schreiben und Rechnen alltagsrelevantes Wissen, z. B. über Landwirtschaft, Gesundheit und Familienplanung.

Ihre Tochter überzeugte sie schließlich, lesen und schreiben zu lernen. „Sie hilft mir bis heute, wenn ich mit einer Aufgabe nicht weiterkomme.“ Einfache Texte versteht Tiringo mittlerweile und sie schreibt Kurznachrichten an ihre Verwandten in der Hauptstadt. Anträge und Dokumente signiert sie jetzt mit ihrem Namen, anstatt wie früher mit ihrem Fingerabdruck. „Ich fühle mich erst jetzt wie ein richtiger Teil der Gesellschaft.“

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