Zurück ins Licht
Schwerpunkt: Gesundheit
Ayalew Gizaw war 17 Jahre lang blind. Durch Zufall geriet er an einen Augenarzt. Nach einer simplen Operation konnte Ayalew wieder sehen. Es ist ein Schicksal unter vielen: Grauer Star ist leicht heilbar, doch es fehlt an Augenärzten in Äthiopien. Hunderttausende Menschen sind blind – obwohl sie es nicht sein müssten.
Ayalew Gizaw war etwa 60 Jahre alt, als seine Augen immer trüber wurden. “Erst war es nur das linke Auge, dann auch das rechte”, erzählt er. Weil er keine Erklärung für sein Leiden hatte, bastelte er sich eine Theorie: Die Milch des großen Kaktus, der hinter seinem Haus steht, sei schuld an seiner schwindenden Sehkraft. Er mied die Pflanze, doch das half nicht: Nach sechs Monaten lag die Welt für Ayalew Gizaw vollends hinter einem milchig-grauen Schleier. Die Familie brachte ihn in ein Krankenhaus. “Doch die Ärzte schickten uns wieder weg”, sagt Ayalew. “Sie sagten mir nicht einmal, woran ich litt.” Das war vor etwa 20 Jahren.
Wenn Ayalew Gizaw seine Geschichte heute erzählt, funkeln seine dunklen Pupillen, und ein verschmitztes Lächeln umspielt seinen Mund. Wo einst ein kräftiger Schneidezahn steckte, klafft eine große Lücke. Auf die Frage, wie alt er ist, hält Ayalew einen Moment inne. “Etwa 80”, sagt er dann. Es könnten auch ein paar Jahre mehr sein, so genau weiß das niemand.
Dafür kennt Ayalew Gizaw das Geheimnis eines langen Lebens: “Man muss in Bewegung bleiben”, sagt er. “Ich habe auf dem Feld gearbeitet, seit ich ein Kind war. Erst, um meinen Eltern zu helfen, später, um meine eigene Familie zu ernähren.” Ayalew war der erste, der ein Wellblechdach auf seine Hütte zimmerte, als alle anderen im Dorf noch Strohdächer hatten. Es war ein Leben für die Arbeit, das mit Ayalews Augenlicht verschwand. Zurück blieb ein gebrochener Mann.
Und eine Familie, die sich neu organisieren musste: Ayalews Sohn Ibrahim, damals 21, übernahm viele Aufgaben des Vaters. Seine Tochter Etatu betreute ihn rund um die Uhr. “In meinen Träumen sah ich mich auf dem Feld schuften, aber als ich aufwachte, war da nur wieder dieses Grau”, sagt Ayalew. Etwa zehn Jahre vergingen, in denen 14 Enkelkinder geboren wurden, die Ayalew zwar hören, aber nicht sehen konnte. Eines von ihnen, die kleine Habatam, übernahm im Alter von fünf Jahren die Aufgabe, den Großvater zu betreuen. Sie führte ihn aufs Feld oder zur Kirche und half ihm bei den täglichen Handgriffen. “Er erzählte mir oft vom Allmächtigen”, erinnert sich Habatam. “Er sagte: ‘Man kann es nicht verstehen, aber es ist sein Wille, dass ich blind bin.’ Wenn das tatsächlich so ist, dann wünscht sich Gott wohl auch, dass ich nicht zur Schule gehen kann”, dachte Habatam.
Ein simpler Eingriff lässt Blinde wieder sehen
Es dauerte fünf weitere Jahre, bis die Familie die Chance erhielt, sich über “den Willen Gottes” hinwegzusetzen. Ayalews Sohn Tefara war an jenem Tag aus ihrem Dorf Dibichere in die nächste Stadt, nach Mekane Selam, marschiert, um ein Schaf auf dem Markt zu verkaufen. Auf dem Weg zum Markt fuhr ein Auto mit einem Lautsprecher auf dem Dach an ihm vorbei.
“Eine Stimme erzählte von kostenlosen Behandlungen und Operationen”, erzählt Tefara. Die Stiftung Menschen für Menschen hatte einige Augenärzte nach Mekane Selam, wo auch die Zentrale des Projektgebiets Borena angesiedelt ist, geholt, um kostenlose Grauer-Star-Operationen anzubieten. Die Augenkrankheit ist mit einem kleinen Eingriff heilbar, doch auf dem Land in Äthiopien fehlt es an medizinischem Personal. Deshalb erblinden bis heute Menschen an dem heilbaren, aber unbehandelten Augenleiden.
Einer Studie des äthiopischen Gesundheitsministeriums zufolge sind rund 1,2 Millionen Äthiopier blind, die Hälfte von ihnen als Folge des Grauen Stars. Mittlerweile dürften die Zahlen höher sein, denn seit Veröffentlichung der Studie sind zehn Jahre vergangen – und die Bevölkerung Äthiopiens ist von rund 75 Millionen auf mehr als 100 Millionen Menschen gewachsen.
Als Tefara die Stimme aus dem Lautsprecher gehört hatte, lief er sofort nach Hause und erzählte dem Vater davon. Gemeinsam zogen sie los, doch auf halbem Weg packten Ayalew die Zweifel. Er hatte keine Erfahrungen mit Ärzten und fürchtete, sie könnten ihm vielleicht mehr schaden als nutzen. Tefara redete auf seinen Vater ein, und schaffte es schließlich, ihn zu überzeugen. Dann ging lles ganz schnell: Ayalew wurde noch am selben Tag operiert. Ihm wurden zwei neue Linsen eingesetzt. Drei Tage später wurden die Verbände entfernt, und der alte Mann sah seine Enkelin Habatam im Raum stehen. Er traute seinen Augen nicht recht. “Wer bist du?”, fragte er skeptisch. “Ich bin Habatam”, sagte das Mädchen. Ayalew erkannte ihre Stimme und rief: “Ich kann dich sehen!”
Ein neues Leben – Für Großvater und Enkelin
Auf dem Weg zurück musste Habatam den Großvater zum ersten Mal nicht führen. Er konnte selbst über die holprigen Feldwege heimwärts laufen. Als sie in ihrem Dorf ankamen und das Grundstück betraten, erkannte Ayalew es kaum wieder. “Alles hatte sich verändert”, sagt er. Auch Simegn, seine Frau, hatte sich verändert. Als Ayalew sie sah, sagte er: “Du bist aber alt geworden.” Simegn entgegnete nur: “Du auch!” Immerhin: Ihr Humor war der alte. Seine Schaffenskraft sowieso: Schon am nächsten Tag marschierte er aufs Feld, um zu arbeiten. Auch für Habatam begann ein neues Leben. Das Mädchen war mittlerweile zehn Jahre alt – und konnte endlich zur Schule gehen.
Das war vor fünf Jahren. Ayalew blickt zu seiner Frau Simegn hinüber, in deren Pupillen ein zarter grauer Schleier zu sehen ist. Grauer Star. Doch das ist heute kaum noch ein Problem, denn Menschen für Menschen bietet zweimal im Jahr OP-Termine für die Menschen aus der Region an. Simegn hat sich bereits angemeldet, in ein paar Monaten ist der Termin. “Diese Krankheit ist wie ein Gefängnis, dessen Tür sich langsam schließt”, sagt Ayalew. “Die Operation hat mir die Freiheit wieder geschenkt.”