
Hoffnung auf Heilung
Nimmt einem der Graue Star das Augenlicht, sind selbst kleinste Alltagsaufgaben kaum zu bewältigen. Betroffene verharren in einem Leben im Dunkeln – hilflos und abhängig von anderen. Obwohl die Krankheit heilbar ist, lässt sie Hunderttausende in Äthiopien erblinden. Denn vor allem auf dem Land fehlt es an Augenärzten. Menschen für Menschen organisiert daher kostenlose Operationen.
Alltag ohne Selbstständigkeit
Als Fate Abegaz zuletzt einen Arzt besuchte, wies dieser sie schroff zurück. Die 65-Jährige solle sich keine Hoffnung machen, geheilt zu werden. Fate ist auf beiden Augen erblindet. Vor einigen Jahren begann sich ihre Sicht zu trüben, als würde sich ein dichter Nebel vor ihre Augen schieben. Fate lebte mit ihrem Ehemann auf dem Grundstück seiner Familie.
Zunächst kümmerte er sich liebevoll um seine Frau, deren Krankheit immer weiter voranschritt. Doch als er vor einem Jahr starb, wollte niemand mehr die Last ihrer Betreuung tragen. „Sie haben mich einfach vom Hof gejagt“, sagt Fate und schluckt. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen. Fate zog zu ihrem Neffen. Der 28-jährige Ali und eine weitere Nichte kümmern sich um ihre Tante.

Nichts kann sie mehr allein: nicht kochen, waschen, zur Toilette gehen, sich anziehen oder ein paar Schritte im Garten laufen. Was der Grund für ihre Erblindung ist, weiß Fate nicht. „Allah will mich bestrafen“, sagt sie. Der Verlust ihres Augenlichts, ihres Ehemanns, die Zurückweisung seiner Familie, die Hiobsbotschaft des Arztes – es ist zu viel für die zierliche Frau: „Ich denke oft, es wäre besser zu sterben, als so weiterzuleben.“
„Sie war so eine fröhliche Frau“, bedauert ihr Neffe Ali. Anders als sie selbst, hat er seine Tante nie aufgegeben. Als er von Dorfbewohnern hörte, dass in der Stadt Mekane Selam im Projektgebiet Borena in dieser Woche Augenoperationen durchgeführt werden, überzeugte er sie, noch diesen einen Versuch zu starten. „Ich habe versprochen, ihr bei uns nebenan eine eigene kleine Hütte zu bauen, sollte die Operation erfolgreich sein“, sagt Ali. Mehr als 100 Kilometer legten die beiden zu Fuß und in Kleinbussen zurück.
Ärztemangel in ländlichen Gebieten
Nun sitzt Fate vor Behailu Bekele. Der junge Optiker leuchtet ihr mit einer Taschenlampe erst ins linke, dann ins rechte Auge. Fate zeigt keine Reaktion. Wenig später steht für den Experten fest, dass sie in beiden Augen an einer fortgeschrittenen und komplizierten Form des Grauen Stars leidet. „Doch unser Team kann dir sicherlich helfen“, beruhigt Behailu die Patientin.
Die Augenkrankheit Grauer Star ist für knapp die Hälfte aller Erblindungen weltweit verantwortlich. In Äthiopien ist sie neben der bakteriellen Trachominfektion die häufigste Ursache. Durch
eine Routineoperation kann Grauer Star geheilt werden. Doch nur ein Prozent der weltweit tätigen Augenärztinnen und Augenärzte praktizieren in Afrika.

Die überwiegende Anzahl der Augenärtzte Äthiopiens praktizieren in Städten wie Addis Abeba. Für die ländliche Bevölkerung sind sie somit unerreichbar. Zu weit die Reise, unerschwinglich der Transport, die Unterkunft und die Kosten für die Behandlung.
Großer Bedarf an Spezialisten
Menschen für Menschen organisiert deshalb regelmäßig kostenlose Operationen in den Projektgebieten. Ausgebildete Augenspezialisten führen sie durch, wie der 29-jährige Said Abdu, der eigentlich in einem Krankenhaus in der nahegelegenen Stadt Dessie arbeitet. Für seinen Einsatz ist er nach Mekane Selam in das nordäthiopische Projektgebiet Borena gekommen.
Menschen für Menschen bezahlt ihm und seinem fünfköpfigen Team aus Krankenschwestern, Pflegern und dem Optiker ein Tagegeld, die Linsen und das benötigte medizinische Material, wie Nadeln, Watte und Desinfektionsmittel. Für Transport und Logis kommen die Regierung und das Krankenhaus auf.

Erneut Sehen möglich machen
Normalerweise dauert der Eingriff, bei dem die getrübte Linse durch eine Kunstlinse ersetzt wird, nur etwa 15 bis 20 Minuten. Fate Abegaz liegt schon eine halbe Stunde auf der Behandlungsliege. „Linse bitte“, sagt Said Abdu in die Stille des Operationsaals. Eine der Arzthelferinnen reicht ihm ein eingeschweißtes Exemplar.
Nach weiteren langen Minuten ist Said fertig, überklebt das behandelte Auge mit einem Verband. Es könne gut sein, dass sich das Auge nach der aufwendigeren Operation entzünde und Fate deshalb für einige Tage kaum besser sehen könne, erklärt er. Und auch danach wird sie höchstwahrscheinlich nicht wieder genauso gut sehen wie früher einmal.

„Aber zumindest ein paar Meter weit“, sagt er und hilft Fate sich aufzusetzen. „Du musst dich nun ausruhen.“ Er selbst hat kaum Zeit für eine Pause. Durch die Corona-Pandemie und den Bürgerkrieg sind die Operationen in Borena zwei Jahre lang ausgefallen. Der Andrang ist groß. Über 200 Menschen werden Said und sein Team am Ende der Woche operiert haben. Mitzuerleben, wie die Menschen endlich wieder sehen können, entschädigt sie für ihre Anstrengungen.
Lichtblicke einer neuen Zukunft
Im Morgengrauen des kommenden Tages versammeln sich Fate und rund 40 weitere Patientinnen und Patienten vor den Behandlungszimmern. Dicht gedrängt sitzen sie auf schmalen Holzbänken. Said tritt vor Fate, zieht vorsichtig das Pflaster ab und leuchtet mit seinem Handy in ihr Auge.
„Kannst du das Licht sehen?“, fragt er. „Ja!“, stößt Fate hervor. „Ja tatsächlich, ich kann es sehen!“ Said Abdu ist zufrieden. „Das Auge sieht viel besser aus als gedacht.“ Nachdem sich Fate bei der Krankenschwester der Stiftung Augentropfen abgeholt hat, kann sie nach Hause zurückkehren. Ihr zweites Auge wird sie beim nächsten Besuch der Ärzte in Mekane Selam operieren lassen.

„Allah hat mir verziehen. Er hat mich hierhergeschickt“, freut sich Fate. Allein, ganz ohne die Hilfe ihres Neffen läuft sie zum Tor der Projektzentrale. Es sind ihre ersten Schritte in eine hoffnungsvollere Zukunft.
Veröffentlicht am 22. November 2023