Augenopferation bei Jungen Getu

Getu soll die Zukunft sehen

Projektgebiet: Ginde Beret
Schwerpunkt: Gesundheit

„Nein“, sagt Getu Ifa. „Ich habe keine Angst.“ Der Zehnjährige liegt auf einer Liege im Gesundheitszentrum von Chulute, und sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell wie nach einem Hundert-Meter-Lauf: Natürlich hat er Angst vor der Operation. Wie viele Menschen im Projektgebiet Ginde Beret leidet der Junge am Trachom – einer Augeninfektion, die unbehandelt zum Erblinden führen kann. 

„Ich gebe dir eine Spritze zur lokalen Betäubung“, sagt Schwester Beletetsch, 24. „Ischi!“, sagt Getu unter dem dunklen Tuch, das sein Gesicht abdeckt und nur eine Öffnung für das rechte Auge freilässt: „Okay!“ Seine Hände sind fahrig. „Wie lange schon hast du diese Augenschmerzen?“, fragt die Krankenschwester. „Eigentlich schon immer“, antwortet Getu. Ob beim Viehhüten, beim Spielen mit Freunden oder in der Schule: ohne Unterlass ist da dieser Schmerz im rechten Auge. Es fühlt sich an, als ob Sandkörner auf den Augapfel drücken und reiben. Das Auge tränt, juckt und brennt. Manchmal bleibt Getu in der fensterlosen Hütte, wenn die Freunde draußen mit einem Stoffball spielen, weil der Schmerz in der Dunkelheit leichter zu ertragen ist und das Auge weniger tränt als in der grellen Sonne.

Getu leidet am Trachom (griechisch für „raues Auge“), einer chronischen Bindehautentzündung, die durch schlechte sanitäre und hygienische Lebensumstände verursacht wird. Im ersten Stadium der Krankheit setzen sich die Bakterien namens Chlamydia trachomatis an der Innenseite des Oberlides fest. Der Organismus wehrt sich, es bilden sich Lymphfollikel, gelbliche Erhebungen. Die Follikel platzen und vernarben – dadurch zieht sich die Lid-Innenseite zusammen. Die Folge: Das Lid mit den Wimpern dreht sich nach innen ein. Nun scheuern die Wimpern bei jedem Lidschlag und jeder Augenbewegung an der Hornhaut des Auges.

Viele Betroffene lassen sich von Familienangehörigen die Wimpern rupfen. Doch nach wenigen Tagen kratzen die neu gewachsenen Wimpernstoppeln umso schlimmer am Augapfel. Das unablässige Scheuern macht die Hornhaut trübe, der Erkrankte erblindet langsam.

professionelle Untersuchung nach Trachom
In den Dörfern untersuchen Gesundheitsfachleute der Äthiopienhilfe die Augen der Einwohner.

Krankheit der Armen

Amerikanische Ärzte beobachteten die Symptome häufig bei bettelarmen Auswanderern aus Europa, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert im New Yorker Hafen ankamen. Heute jedoch ist die Krankheit in der reichen Welt völlig unbekannt. Ganz anders in Äthiopien.

„Schon als Baby hat Getus Auge immer getränt“, erinnert sich Großvater Gima Maru, der seinen Enkel zur Gesundheitsstation in Chulute im Menschen für Menschen-Projektgebiet Ginde Beret begleitet. „Deshalb hat er auch Probleme in der Schule – er kann nicht richtig lesen, was der Lehrer an die Tafel schreibt.“

Getu und sein Großvater auf dem Weg zur OP
Zwei Stunden lang wandert Getu von seinem Dorf hinauf in die kleine Stadt Chulute, wo die Operation stattfindet. Sein Großvater begleitet ihn.

Laut einer Studie der nationalen Gesundheitsbehörden (2007) leiden 40 Prozent aller äthiopischen Kinder unter neun Jahren zumindest am Anfangsstadium des Trachoms – das sind rund neun Millionen Kinder. Bekommen sie keine Antibiotika, kann sich die Infektion langsam weiter zu dem Stadium entwickeln, in dem nur eine Operation vor dem Erblinden helfen kann. 1,3 Millionen Menschen in Äthiopien müssen operiert werden, sonst verlieren sie ihre Sehfähigkeit. 138.000 Menschen, die am Trachom leiden, sind laut der offiziellen Studie bereits auf beiden Augen erblindet.

Im Projektgebiet Ginde Beret ergab eine Untersuchung von Menschen für Menschen, dass 55 Prozent der Bevölkerung von der Infektion betroffen sind. Daraufhin organisierte die Stiftung eine Massenkampagne zur Verteilung von Medikamenten, die 2012 zum ersten Mal stattfand. Zunächst mobilisierten die Mitarbeitenden 350 einheimische Helferinnen und Helfer, die im gesamten Distrikt von Haus zu Haus zogen und die Bauern über die Dringlichkeit der Kampagne informierten. An Schulen und unter Bäumen auf zentralen Plätzen der Dörfer verteilten Gesundheitsfachleute dann Antibiotika-Tabletten, die von der International Trachoma Initiative (ITI) kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. „Von den über 100.000 im Zuge der Kampagne registrierten Menschen erreichten wir mehr als 90 Prozent“, sagt Asaminew Wakjira, 31,zuständig für die Gesundheitsinitiativen im Projektgebiet Ginde Beret: „Ein toller Erfolg.“ Die Kampagne soll in den kommenden Jahren wiederholt werden: „Ziel ist es, die Infektionsrate auf unter zehn Prozent zu drücken.“

Nötig sind 2000 Operationen

Darüber hinaus führt Menschen für Menschen in den Schulen und Dörfern Screenings durch: Gesundheitsfachleute untersuchen die Augenlider der Bevölkerung. In Ginde Beret sind rund 2.000 Menschen, also jeder fünfzigste Einwohner, auf einen Eingriff angewiesen, um ihr Augenlicht zu retten.

Im Dorf Barud untersuchte Asaminew Wakjira die Augen von Getu und gab ihm sofort einen Operations-Termin. Routiniert und sicher setzt Schwester Beletetsch mit dem Skalpell einen kleinen Schnitt ins Lid des Jungen. “Was willst du einmal werden?”, fragt sie.

Operationsraum
Beleletsch Deressa führt am Health Center der Kleinstadt Chulute Trachom-Operationen durch.

„Lehrer“, antwortet Getu unter dem dunklen Tuch, das sein Gesicht abdeckt. „Weißt du eigentlich, wie sich diese Augenkrankheit verbreitet?“ – „Nein“, sagt Getu. „Zum Beispiel über Fliegen“, erklärt sie. „Sie setzen sich an die Augen eines infizierten Menschen und tragen die Bakterien dann zum nächsten. Am besten, man wäscht sich pro Tag drei, vier Mal das Gesicht.“ – „Okay“, sagt Getu.

Sein Brustkorb hebt und senkt sich jetzt langsam, seine Hände sind still. Mit wenigen Stichen näht Schwester Beletetsch den Schnitt und fixiert damit das Lid so, dass die Wimpern nicht mehr am Auge kratzen. „Fertig!“, sagt sie nach kaum 15 Minuten.

“Du warst sehr tapfer!” In einer Woche soll Getu wiederkommen, um sich die Fäden ziehen zu lassen, sagt Schwester Beletetsch noch, bevor sie sich sofort der nächsten Patientin zuwendet: An manchen Tagen schafft sie bis 20 Operationen.

glückliche Patienten nach gelungener Augen-OP
Gesundheitsfachmann Asaminew Wakjira gratuliert Getu zur geglückten Operation: "Du bist sehr tapfer."

Bessere Wasserversorgung

Doch mit den chirurgischen Eingriffen und der Massenabgabe von Antibiotika allein ist es noch nicht getan. Um die Armutskrankheit langfristig und nachhaltig zu besiegen, braucht es im gesamten Landstrich eine viel bessere Hygiene und sanitäre Versorgung. In den Projektgebieten der Hilfsorganisation, in denen hauptsächlich Menschen muslimischen Glaubens leben, ist das Trachom viel weniger verbreitet: dort wäscht man sich vor den täglichen Gebeten rituell das Gesicht. Im christlichen Hochland aber, wo das Wasser häufig aus weit entfernten Quellen herangeschleppt werden muss, hüten die Menschen ihr Wasser als knappes Gut. Entscheidend bei der Trachom-Bekämpfung ist deshalb auch, die Wasserversorgung zu verbessern.

In Getus Dorf Barud hat Menschen für Menschen eine Quelle gefasst. Eine stählerne Pipeline führt das Trinkwasser 500 Meter weit den Hang hinunter zu einer Wasserstelle. Dort gibt es nicht nur Hähne zur Entnahme des Trinkwassers, sondern auch Waschbecken und Duschen. Durch die Wasserstelle wird nicht nur das Trachom zurückgedrängt, es werden auch andere landesübliche Gesundheitsgefahren wie bakterieller Durchfall oder Darmwürmer vermieden, die durch kontaminiertes Wasser entstehen. Die Hygieneaufklärung in den Dörfern ist ein wichtiger Teil der Arbeit von Schwester Beletetsch. Doch an zwei bis drei Tagen in der Woche operiert sie. Weit über 1.000 Eingriffe hat sie bereits vorgenommen .

“Ich liebe meine Arbeit”, sagt die 24-Jährige und lächelt. “Wer hier draußen in der Abgelegenheit der Dörfer nichts sieht, ist besonders arm dran. Ich sorge dafür, dass die Menschen ein würdiges Leben führen können.”

Portrait der Krankenschwester Beleletsch
Beleletsch Deressa, 24, ist Krankenschwetser und Trachom-Operatuerin von Menschen für Menschen.

„Das Trachom ist ein gesundheitliches, aber auch ein ökonomisches Problem. Frauen sind davon dreimal häufiger betroffen als Männer – durch den engen Kontakt mit ihren Kindern kommt es zu gegenseitigen Infektionen. Eine Mutter, die ständig unter Augenschmerzen leidet oder gar erblindet, kann ihre Kinder nicht versorgen. Dann bleiben die Töchter zu Hause, um der Mutter zu helfen, statt zur Schule zu gehen. Der Kampf gegen das Trachom ist also auch ein Kampf für die Entwicklung der Familien.“

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