Neues Leben am Berg Kundudo
Schwerpunkt: Landwirtschaft
900 Kilometer Terrassierungen, rund 10 Millionen Baumsetzlinge: Auf dem Kundudo-Plateau im Osten Äthiopiens setzt Menschen für Menschen ein gewaltiges Aufforstungsprojekt um. Es steht beispielhaft für das Ziel, die Lebensgrundlagen der Menschen in Äthiopien wiederherzustellen und nachhaltig zu sichern. Notlagen wie der Hungersnot, die Teile Äthiopiens infolge der anhaltenden Dürre erfasst hat, kann so vorgebeugt werden.
Die anderen Dorfbewohnenden hatten Moilud Ahmed gewarnt: Bau deine Hütte nicht am Fuß des Berges. Wenn der große Regen kommt, schwimmt sie davon. „Ich wusste, dass es gefährlich ist, so nah am Hang zu leben“, sagt der 35-jährige Kleinbauer heute. Doch die Bevölkerung in der Gegend wächst, und so sind Acker- und Bauland rar geworden. „Bis dahin hatten wir auf dem Grundstück meiner Eltern in einer Hütte gelebt, aber als meine Frau wieder schwanger wurde, wollten wir ein eigenes Zuhause“, sagt Moilud.
Und so bauten sie doch am Fuß des Tulu Korke, einem Hügel, auf dem nur Gestrüpp und ein paar einsame Bäume wachsen. Während der Regenzeiten schießt das Wasser ungebremst die Hänge hinab.
“Ich kannte die Gefahr”, sagt Moilud. “Aber ich dachte, wenn ich einen Graben ziehe und einen kleinen Wall aufschütte, sind wir sicher.” Es sollte anders kommen. Immer im Frühjahr und Spätsommer, wenn es wochenlang pausenlos regnet, versanken die Felder und Beete der Familie im Morast. Große Teile der Ernte gingen verloren. Selbst in ihrer Hütte stand die Familie immer wieder bis zu den Knöcheln im Wasser. “Als Bauern sollten wir uns auf den Regen freuen”, sagt Moilud. “Aber irgendwann hatten wir nur noch Angst vor ihm.”
Früher wurden im Wald Rehe gejagt
“Früher gab es diese Überschwemmungen nicht”, sagt Hassan Jami und blickt von einer Anhöhe über das karge Bergland. Der 65-jährige Hirte mit dem grauweißen krausen Bart wurde in dieser Gegend geboren. Er erinnert sich noch gut daran, wie es hier zu seiner Kindheit aussah. „In den Tälern und an den Hängen standen dichte Wälder, in denen wir Rehe jagten“, sagt er. Allerdings habe man vorsichtig sein müssen: Im Dickicht seien auch schwarze Panther unterwegs gewesen.
“Die Wälder haben die Menschen mit Fleisch, Beeren und Heilkräutern versorgt”, sagt Hassan. “Dass sie uns auch vor den Sturzfluten schützten, haben wir erst verstanden, als es schon zu spät war.”
Das Kundudo-Plateau, rund 600 Kilometer östlich von Addis Abeba, unweit der Grenze zu Somalia: Berühmt ist diese Gegend vor allem für das Dorf Ejersa Goro, in dem der äthiopische Herrscher und letzte Kaiser Abessiniens Haile Selassie 1892 geboren wurde. Ein paar Kilometer weiter steht der Berg, nach dem die Region benannt ist: der 3.000 Meter hohe Mount Kundudo. Mit seinen sattgrünen Hängen, die wie gigantische Treppen aus dem Boden wachsen, bietet er einen bizarren Anblick. Von seinem Gipfel soll man bei gutem Wetter den 250 Kilometer entfernten Golf von Aden sehen können. Der Berg ist eine Attraktion in jeder Hinsicht und war einst auch bei Touristen beliebt.
Holzbedarf führt zu Kahlschlag
Ein weniger schönes Schauspiel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten am Fuß des Kundudo-Berges zugetragen: Die Wälder, in denen der Hirte Hassan Jami als Kind jagte, fielen nach und nach dem Holzbedarf der wachsenden Bevölkerung zum Opfer. Für die rund 55.000 Menschen, die heute auf dem Kundudo-Plateau überwiegend von Landwirtschaft und Viehzucht leben, blieb der Kahlschlag nicht ohne Folgen. Zu den Überschwemmungen, die während der Regenzeiten Mensch und Vieh gefährden, kamen sinkende Erträge in der Landwirtschaft, weil die Sturzfluten wertvollen Humus fortspülten. Ein weiteres Problem stellt die Wasserversorgung dar: Wo Regenwasser ungebremst abläuft, versickert weniger im Boden. So kann sich das Grundwasser nur schlecht regenerieren, Brunnen und Quellfassungen versiegen.
“Die Situation spitzte sich immer weiter zu”, sagt Gebeyehou Seyoum, 44. Der Agrarökonom ist der Manager eines groß angelegten Wiederaufforstungsprojekts, das die Stiftung Menschen für Menschen 2012 auf dem Kundudo-Plateau gestartet hat.
“Unsere Untersuchungen hatten ergeben, dass die Menschen in dieser Region immer stärker unter Überschwemmungen sowie Wasser- und Lebensmittelknappheit litten”, sagt Gebeyehou Seyoum. Der Grund dafür war eindeutig: Das Fehlen des Waldes hatte das Ökosystem in der Region durcheinandergebracht. Dem Prinzip “Hilfe zur Selbstentwicklung” folgend, entwickelte Menschen für Menschen einen ambitionierten Plan: Der Wald sollte zurückkehren nach Kundudo. Und mit ihm die Lebensperspektiven der Menschen.
Fünf Jahre später hat das Projekt bereits sichtbare Spuren hinterlassen. Breite Bergrücken sind von Erd- und Steinwällen überzogen, die herabstürzende Wassermassen bremsen und zugleich horizontale Flächen schaffen, auf denen Setzlinge gut gedeihen können. 500 Kilometer dieser Geländestufen sind insgesamt in der Region geplant. Weitere 400 Terrassenkilometer werden auf den flacheren Hängen errichtet und bieten Raum für den Feldfruchtanbau. Wo die Erosion bereits tiefe Narben in die Landschaft gerissen hat, werden riesige, mit Steinen gefüllte Gitterkörbe installiert, die den Strom von Wasser und Erde aufhalten und dafür sorgen, dass die gewaltigen Gräben wieder zuwachsen. 125 solcher Gabionen sind auf dem Kundudo-Plateau geplant.
Die Bewohnenden selbst setzten das Projekt um
„Ohne die Unterstützung der Menschen, die hier leben, könnten wir ein Projekt dieser Größenordnung gar nicht organisieren“, sagt Gebeyehou Seyoum. Nicht zuletzt, weil es die Anwohnenden selbst sind, die mit ihrer Hände Arbeit ganze Hänge mit Terrassen versehen.
Seit Jahren kann man Bautrupps von mehreren hundert Männern beobachten, die früh morgens, Schaufeln und Hacken geschultert, die Berge hinaufmarschieren. Gegen eine Aufwandsentschädigung, die sie von der Stiftung erhalten, schlagen sie in Schwerstarbeit die stabilen Stufen in die Hänge.
Daneben werden bodenstabilisierendes Vetivergras und Baumsetzlinge gepflanzt. Eigenhändig verändern die Bewohnenden auf diese Weise die Landschaft ihrer Region grundlegend, um sie auf diese Weise wieder ihrem ursprünglichen Zustand nahezubringen.
Das Projekt fügt sich in die Pläne Äthiopiens, eine Wirtschaft mit geringem Kohlendioxid-Ausstoß zu formen. Das Ziel ist hoch gesteckt: Bis 2025 soll Äthiopien ein kohlendioxid-neutrales und klimafreundliches Land mit mittlerem Einkommen werden. Die zu diesem Zwecke ausgearbeitete Strategie “Climate-Resilient Green Economy” (CRGE) umfasst drei Zielsetzungen: die Verringerung von Emissionen, die Verringerung der Anfälligkeit für die Folgen des Klimawandels sowie die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums.
Der gewaltige Kraftakt am Kundudo-Berg ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil von ihm nicht unbedingt jene profitieren, die ihn leisten, sondern erst deren Kinder oder Enkel. Ein Prinzip, das die Forstwirtschaft seit etwa 200 Jahren mit dem Begriff der “Nachhaltigkeit” umschreibt.
Nadel- und Laubbäume schießen in die Höhe
“Dass der Wald zurückkommen muss, hatten die Menschen hier verstanden”, sagt Gebeyehou Seyoum. “Das Problem war, dass nicht alle uns von Anfang an vertrauten.” Der Grund war ein gescheitertes Aufforstungsprogramm, das die Regierung vor etwa 30 Jahren in der Region gestartet hatte. “Ihre Setzlinge waren schwach und die Terrassierungen falsch angelegt”, sagt Gebeyehou Seyoum. “Wir mussten die Menschen also erst davon überzeugen, dass es diesmal besser laufen wird.” Dass dem neuen Projekt mehr Erfolg beschieden ist, kann man auf dem Rücken des Gara Guracha, des “Schwarzen Berges”, beobachten: Wo sich bis vor ein paar Jahren nur einige Disteln im Boden festkrallten, schießen jetzt dicht an dicht die Nadel- und Laubbäume in die Höhe. Vor einem von ihnen, einer mannshohen Silbereiche, bleibt Gebeyehou Seyoum stehen und legt die Hand um ihren Stamm, der bislang nur etwa so dick ist wie ein Besenstiel. “In zehn Jahren kann dieser Baum mehr als 15 Meter hoch sein”, sagt er. Am Fuß des Gara Guracha macht sich der neue Bewuchs derweil ebenfalls bemerkbar: Die Quellen und Brunnen im Tal geben wieder deutlich mehr Wasser.
Auch am Fuß des Tulu Korke hat sich die Lage entspannt. Moilud spaziert durch seinen Gemüsegarten und strahlt Zuversicht aus.
Rechts und links wachsen Bohnen und dicke Kohlköpfe, auf den flachen Ausläufern des Tulu Korke wiegen sich Weizen und Sorghum im Wind. Ein kleiner Eukalyptushain versorgt die Familie mit Holz.
Weiter oben erkennt man die Terrassenbauten als feine horizontale Linien. Als im Spätsommer vergangenen Jahres der große Regen fiel, bremsten die Stufen das Wasser größtenteils. Die Überschwemmungen hätten abgenommen, sagt Moilud und blickt hinüber zu dem Berg, der zum Feind geworden war, bald aber wieder Freund sein soll. “Wenn der Wald erst wieder da ist, können hier auch meine Kinder und Enkelkinder leben.”