Lebenswichtige Bodenschätze
Schwerpunkt: Landwirtschaft
Jeder dritte Mensch in den Entwicklungsländern kann sich nur eine einseitige Ernährung leisten und leidet in der Folge an Mangelernährung. Das wirksamste Mittel gegen diesen “versteckten Hunger” ist eine vielfältigere und ertragreichere landwirtschaftliche Produktion. Deshalb schult Menschen für Menschen Bauern im Projektgebiet Wore Illu im Anbau und in der Zubereitung von Gemüse, das ihren Speiseplan bereichert – und auf den Märkten gute Preise erzielt.
Wenn die Ernte näher rückt, findet Hussen Endere nur noch wenig Schlaf. Denn dann tauscht er das Holzhaus, in dem er gemeinsam mit seiner Frau Fatima lebt, gegen eine zeltähnliche Hütte aus Ästen und Blättern, die er neben seinem Gemüsefeld aufgestellt hat. Rund zwei Wochen lang verbringt der 46-jährige Landwirt die Nächte in dem Unterschlupf, der keinen Komfort bietet. Dafür hat er aber einen guten Blick auf seine Pflanzen. Und so liegt er dann da, im Mondlicht, unter einer dünnen Decke. In Griffweite: ein kleiner Haufen Steine in Wurfgeschoss-Größe. “Ich döse vielleicht mal ein, aber beim kleinsten Geräusch bin ich sofort hellwach”, sagt Hussen. Die Diebe, die er vertreiben will, kommen auf leisen Pfoten. Es sind Hasen, die wittern, welche Köstlichkeiten hier auf 500 Quadratmetern im sandigen Lehmboden stecken. Faustgroße Rote-Bete-Knollen etwa. Oder knackige Karotten in sattem Orange. Äthiopiens Bodenschätze.
Versteckter Hunger
In diesen Nächten bewacht Hussen Endere ein kleines Vermögen: Rund 70 Zentner der schmackhaften Wurzeln hat er bei der vergangenen Ernte aus dem Boden gezogen. Rund 10.000 Birr, umgerechnet etwa 400 Euro haben Fatima (39) und er dafür auf dem Markt erhalten.
Noch vor anderthalb Jahren wuchsen auf derselben Fläche 100 Kilo Weizen mit einem Verkaufswert von 1.600 Birr, umgerechnet rund 65 Euro. Und weil sich oberhalb des Feldes eine Quelle befindet, kann Hussen Endere es sogar regelmäßig bewässern. “Auf diese Weise können wir bis zu drei Mal im Jahr Gemüse ernten”, erklärt er.
Zwei Jahre ist es her, dass Mitarbeiter von Menschen für Menschen das Dorf Bille Agere in der Projektregion Wore Illu erstmals aufsuchten, um Hussen und den anderen Bauern von den Vorteilen des Gemüseanbaus zu erzählen. Sie erklärten ihnen, wie wichtig eine ausgewogene Ernährung für die Gesundheit ist. Und sie rechneten ihnen vor, wie viel sie ernten und welchen Umsatz sie auf den Märkten machen könnten. Etwa ein Drittel der Menschen in den Entwicklungsländern ist von chronischer Mangelernährung betroffen. Der Grund dafür ist, dass die Menschen sich nur Brot und Brei aus verschiedenen Getreidesorten leisten können. Essen, das zwar den Magen füllt, dem aber wichtige Nährstoffe wie Vitamin A, Jod, Zink oder Eisen fehlen. Zieht sich dieser einseitige Speiseplan über einen längeren Zeitraum, können “Mikronährstoffdefizite” auftreten, der so genannte “versteckte Hunger”. Seine Folgen für Erwachsene sind Mangelerscheinungen wie Erschöpfung und Anfälligkeit für Infekte. Während der Schwangerschaft kann die Mangelernährung zu Fehlentwicklungen beim Ungeborenen führen. Zudem haben die Mütter nach der Geburt oft nicht genug Muttermilch, um zu stillen. Für viele Kinder beginnt auf diese Weise ein Leidensweg, der sich nicht selten mit den Jahren verschlimmert: Nährstoffmangel kann Wachstumsstörungen, Behinderungen, Immunschwäche, Blindheit und viele weitere gesund heitliche Schäden nach sich ziehen. Unicef zufolge ist jedes vierte Kind auf der Welt mangelernährt.
Was die Mitarbeiter von Menschen für Menschen über das Gemüse und seine Wirkung erzählten, leuchtete den Bauern aus Bille Agere zwar ein. Viele von ihnen hatten Kartoffeln oder Karotten auch schon auf dem Markt gesehen – allein das hatte gereicht, um ihr Interesse zu wecken: Gemüse lässt sich vergleichsweise teuer verkaufen.
Und doch scheuten die meisten den Anbau. Was, wenn das Experiment scheitern würde? Sie hätten wertvolle Feldfläche verschenkt und würden einen Teil ihrer Ernte verlieren. Ein Opfer, dass sich äthiopische Kleinbauern nicht leisten können. Die ersten, die den Schritt wagten, waren Hussen Endere und seine Frau Fatima. Sie hatten zwar auch noch nie Gemüse angebaut, doch die Quelle oberhalb eines ihrer Felder erhöhte die Chancen auf gute Erträge. Also säten sie Karotten und Rote Bete, zunächst auf 50 Quadratmetern.
Das entspricht einem Prozent ihres gesamten Ackerlandes. “Wir wussten nicht, was passieren würde”, erzählt Hussen. “Aber die Mitarbeiter von Menschen für Menschen haben ja an Universitäten studiert. Ich dachte mir: Sie werden schon wissen, was sie tun.” Der Mut sollte sich auszahlen. Wenige Monate später zogen Hussen und Fatima die ersten dicken Knollen aus dem Boden. Und säten wieder Karotten und Rote Bete, diesmal allerdings schon auf 500 Quadratmetern Land. Kaum hatte der Bauer die ersten Wurzeln geerntet, zogen die Nachbarn nach und dann weitere Familien aus der Umgebung. Mittlerweile ist die Zahl der Gemüsebauern in der Gegend um das Dorf Bille Agere auf 74 gestiegen. Auf insgesamt 10 Hektar Land wachsen jetzt neben Zwiebeln und Kohl auch Kartoffeln, Rote Bete und Karotten.
Lösungen auf dem Land
Mangelernährung ist kein Problem, das nur Menschen in den Entwicklungsländern betrifft. Auch in der Überflussgesellschaft kann falsche Ernährung zu Mangelerscheinungen führen. Gleichwohl lebt die überwältigende Mehrheit der rund zwei Milliarden Menschen, die an “verstecktem Hunger“ leiden, in den Entwicklungsländern.
Der Schlüssel zu einer besseren Versorgung dieser Menschen ist eine innovative Landwirtschaft. Sie schafft Ernährungssicherheit und kann zum Motor einer erfolgreichen, nachhaltigen Entwicklung werden. Zudem bietet sie jungen Menschen Beschäftigung und wirkt so der anhaltenden Landflucht entgegen. Die Zukunft der Entwicklungsländer scheint sich auf dem Land zu entscheiden. Und das Ziel, das die UN formuliert haben, ist ehrgeizig: Um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, müsse die globale Landwirtschaftsproduktion bis 2050 um 60 Prozent gesteigert werden.
Es ist später Nachmittag, die Sonne steht nicht mehr so hoch am Himmel. Zeit, die Felder zu bewässern. Hussen Endere zieht sich die Schuhe aus, krempelt die Hosenbeine hoch und marschiert mit einer Hacke über der Schulter zu dem Bachlauf oberhalb seines Feldes.
Hier oben hat er einen kleinen Damm aus Erde errichtet. So sammelt sich das Wasser in einer Senke. Mit ein paar Hieben mit der Hacke öffnet er nun den Damm – schon plätschert das Wasser talwärts und flutet allmählich sein Gemüsefeld.
Während Hussen und seine Frau durch ihr Feld waten, haben sich ein paar hundert Meter weiter, im Gemeindehaus von Bille Agere, Dutzende von Frauen aus dem Dorf zum gemeinsamen Kochen versammelt. In mehreren Teams schälen und hacken sie die neuen Gemüsesorten und verrühren sie zu würzigen Eintöpfen. Auf einer Bank werden die fertigen Gerichte aufgereiht und verkostet. Im Anschluss tauschen die Frauen untereinander Rezepte und Tipps aus.
“Der Anbau der neuen Pflanzen ist der erste wichtige Schritt. Der zweite besteht darin, die Ernährungsgewohnheiten der Menschen zu verändern“, sagt Zumera Eberia.
Die 25-jährige Sozialarbeiterin leitet das Frauenprojekt in Bille Agere, zu dem neben der Kochaktion auch die Verbesserung der hygienischen Situation in den Haushalten und die Verteilung von holzsparenden Öfen zählt. Vor allem die Männer seien stur, was ihre Ernährung betreffe, weiß Abiot. Am liebsten äßen sie “Injera”, ein Fladenbrot aus Sauerteig mit “Shiro”, einem würzigen Bohnengericht.
“Es dauerte eine Weile, bis sie die neuen Gerichte kosteten”, sagt auch Taito Muhye, 43, die Sprecherin der Frauengruppe von Degnu. Nach einiger Zeit aber hätten sie sich darauf eingelassen. “Und jetzt merken sie, wie gut ihnen diese Speisen tun.” Vor allem die Kinder klagten weniger über Bauchschmerzen, seien kräftiger und seltener krank.
Ein reiches Land - eigentlich
Den Kindern von Hussen und Fatima geht es auch besser, seit zu Hause mehr Gemüse auf dem Speiseplan steht. Eine wichtige Voraussetzung auch für Erfolg in der Schule. Anders als ihre eigenen Eltern, bestehen Hussen und Fatima nicht darauf, dass die Kinder den Hof übernehmen. Wichtiger erscheinen ihnen ein guter Schulabschluss und eine Berufsausbildung. “Bei uns im Dorf träumen viele junge Leute davon, ins Ausland zu gehen, nach Saudi-Arabien zum Beispiel. Aber wer dann geht, kehrt oft bitter enttäuscht wieder zurück.” sagt Hussen Endere. “Meinen Kindern will ich das ersparen. Ich will ihnen zeigen, dass dieses Land in Wahrheit reich ist, wenn wir nur alle hart dafür arbeiten.”