Entwicklung: Vorbildlich!
Schwerpunkt: Landwirtschaft
Wie lässt sich die Landwirtschaft in einer traditionellen und abgelegenen dörflichen Gemeinschaft möglichst rasch und nachhaltig umbauen? Menschen für Menschen setzt auf mutige Bäuerinnen und Bauern, die Neuerungen gegenüber aufgeschlossen sind. Diese Modellfarmerinnen und -farmer werden intensiv gefördert. Ihre imposanten Erfolge machen sie zu Vorbildern und in kurzer Zeit ganze Dörfer zu Nachahmenden.
Fünf Jahre. Länger brauchte es nicht für die Entstehung dieses Garten Eden: Sechs Meter hohe Papaya-Bäume sind aufgeschossen, die Mango-Bäume strecken ihre Äste zu ausladenden Kronen und tragen schwer an ihren Früchten, auch die Kaffeesträucher beugen sich bereits unter der Last von Abertausenden von Kaffeekirschen. Sie gedeihen prächtig im Schatten von Silbereichen, wie auch die Karotten und der Kohl in Beeten mit sorgfältig gelockertem Boden.
Man wandelt durch den üppigen Gemüse- und Obstgarten und ist fasziniert: Wie fruchtbar dieses Land ist, wenn man es nur mit Sachverstand bearbeitet! Yimam, der Besitzer des Gartens, erntet mit Hilfe einer langen Stange eine Papaya und schenkt sie den Besucherinnen und Besuchern. Mit der Entspanntheit des Erfolgreichen sagt er: “Meiner Familie und mir geht es gut.”
Das war nicht immer so. Als das Entwicklungsteam von Menschen für Menschen im Jahr 2010 in das Dorf Finchiso im Projektgebiet Borecha kamen, vermochte Seid Yimam seine Kinder nur mangelhaft zu ernähren. Wie alle 19 Familien im Dorf baute er nur Getreide an. Aber in einem unterschied er sich von den anderen Menschen in seinem Dorf: Er war sofort bereit, sich auf die Fremden einzulassen.
Skepsis steht am Anfang
Wenn das Team von Menschen für Menschen zum ersten Mal in ein abgelegenes Dorf kommt, sehen sie sich zumeist mit Skepsis konfrontiert. Warum, so fragen sich die Einheimischen, wollen uns die Fremden helfen? Welchen Vorteil haben sie davon? Haben sie heimliche Pläne, eine versteckte Agenda? Seit Generationen bauen wir unser Land nach traditionellen Methoden an – warum sollen wir das plötzlich ändern?
“Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht”, heißt ein altes deutsches Sprichwort. Teferi Garedew, stellvertretender Projektmanager im Projektgebiet Borecha, sagt es mit anderen Worten: “Bauern neigen dazu, Neues abzulehnen. Denn Neues bedeutet immer Risiko.” Schlägt der Anbau eines Produkts auf dem knappen Land fehl, ist die Existenz der Familie gefährdet. “Also halten sich die Bauern gewöhnlich an das Alte, verharren in traditionellen Methoden – und damit in ihrer Armut.”
Um die Stagnation zu überwinden, setzt Menschen für Menschen auf ein einfaches und wirkungsvolles Konzept: “In jedem Dorf gibt es ein paar Ausnahme-Persönlichkeiten”, sagt Manager Teferi Garedew: “Bauern, die besonders mutig und innovationsfreudig sind. Das sind die besten Wegbereiter für Ernährungssicherheit.”
Die Stiftung fördert diese sogenannten Modellfarmerinnen und -farmer intensiv. Sie bekommen Samen und Setzlinge aus den stiftungseigenen Baumschulen zu einem vergünstigten Preis, und sie lernen von Fachleuten, wie sie durch einen ökologisch ausgerichteten Landbau mehr aus ihrem Boden herausholen – etwa über die Methode des “Agroforestry”, die auch Bauer Seid verfolgt.
Dabei werden konventionelle Getreidefelder in multifunktionale Gärten umgewandelt, in denen Ernten in mehreren Stockwerken möglich sind: Gemüse am Boden, Kaffee in Strauchhöhe, Obst an Bäumen. Die Zweige der Sesbania-Laubgehölze dienen als Viehfutter, außerdem gewinnen die Bäuerinnen und Bauern wertvolles Bauholz, wenn der Schattenwurf der schnell wachsenden Silbereichen zu dicht wird und einzelne Bäume herausgeschlagen werden können.
Gute Ernten sind das beste Argument
Gewöhnlich sind lediglich zehn Prozent der Bäuerinnen und Bauern innovationsfreudig. Die große Mehrheit ist abwartend. Aber sobald die ersten Ernten und Erfolge der Modellfarmer sichtbar werden, gebe es meist kein Halten mehr, sagt Teferi Garedew: “Plötzlich wollen alle unsere Produktionsmittel und Schulungen.”
In Finchiso begann die Stiftung im Jahre 2010 mit Seid Yimam und zwei weiteren Modellfarmern zu arbeiten. Im Jahr darauf kamen sieben Pioniere dazu, im Jahr 2012 dann weitere sieben Familien. “Lediglich zwei Haushalte im Dorf sind nicht beteiligt”, bedauert Teferi Garedew. “Die Familienvorstände sind alt und nicht mehr bereit, sich auf Neues einzulassen.”
Die Ernten, die Bauer Seid einfährt, sind erstaunlich. Aus einem reinen Selbstversorger ist ein Unternehmer geworden, der das Nahrungsangebot in der Region erhöht: Dank verbessertem Saatgut erntete er auf seinem herkömmlichen Feld im Jahr 2014 eine Tonne Erdnüsse und zehn Tonnen Mais.
In seinem Agroforestry-Garten pflückte er unter anderem 500 Kilogramm Kaffeebohnen. Wenn er diese lagert und zu einem günstigen Zeitpunkt verkauft, erzielt er allein dafür über vier Euro pro Kilogramm. Seinen monatlichen Verdienst schätzt er nun auf 400 Euro – das ist sehr viel Geld in Äthiopien, wo ein einfacher Angestellter etwa 80 Euro Gehalt bekommt.
Seids wachsender Wohlstand ist überall sichtbar: Der Bauer trägt keine eingerissenen Plastikschlappen wie früher, sondern Socken und Lederschuhe. Seine Kinder schlafen jetzt auf Schaumstoffmatratzen und nicht mehr auf dem nackten Lehmboden.
Vor allem aber sieht man die Entwicklung der Familie an den vier Kindern selbst: Sie sind jetzt hellwach, und ihre schulischen Leistungen sind viel besser. “Früher fühlten sich meine Kinder oft schwach. Ständig war eines krank. Jede Woche war ich mit einem von ihnen bei der Gesundheitsstation”, erinnert sich der Bauer. “Damals hatte ich keine Ahnung von Ernährung, aber jetzt weiß ich den Grund: Wir aßen immer das Gleiche, nur Mais und Sorghum.”
Wissen über gute Ernährung hilft der ganzen Familie
Von dem Entwicklungsteam der Stiftung hören die Menschen meist zum ersten Mal, wie wichtig es ist, Gemüse anzupflanzen und sich abwechslungsreich zu ernähren. Weltweit leiden Menschen am sogenannten “versteckten Hunger”, dem Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen – Seids Familie gehört nicht mehr dazu. “Schaut euch die Kinder an!”, sagt der Vater stolz: “Wie gesund sie aussehen!”
Gerne gibt er sein Wissen an Menschen aus benachbarten Dörfern weiter – diese Gegenleistung verlangt Menschen von Menschen von den Modellfarmerinnen und -farmer: So strahlt das Konzept in ganze Regionen aus. Mogus Gizaw, 40, etwa, ist Bauer im Nachbardorf Sese: “Ich kannte Seid, und als ich seinen Garten sah, war mir klar: Das ist auch meine Zukunft.”
Sein Agroforestry-Feld hat er mit Unterstützung von Menschen für Menschen vor zwei Jahren angelegt – jetzt erntet er die ersten Papayas. Das Wissen um den Aufbau des Gartens erhielt er nicht nur von Seid, den er immer wieder besuchte und um Rat fragte, sondern auch in Vor-Ort-Schulungen durch das Landwirtschaftsteam der Stiftung in den Gärten verschiedener Modellfarmerinnen und -farmer.
“Das Konzept ist gut”, sagt Manager Teferi Garedew. “Aber es funktioniert nur dank der Hingabe und Ausdauer unserer Mitarbeitenden.” Um Dorfgemeinschaften zu überzeugen, sei es wichtig, dass die Modellfarmerinnen und -farmer gleich im ersten Jahr signifikante Erfolge vorweisen können. “Deshalb müssen wir in der Regenzeit, wenn die Saat ausgebracht und die Setzlinge gepflanzt sind, ständig mit ihnen in Kontakt sein, ihnen Tipps geben: Wie tief muss ein Setzling in die Erde, wie weit soll der Abstand sein bis zum nächsten?” In der Regenzeit sind jedoch die Lehmpisten häufig nicht passierbar: “Also müssen unsere Fachkundigen zu Fuß zu den Bäuerinnen und Bauern. Vom Büro im Hauptort Yanfa bis zu Bauer Seid sind es 24 Kilometer – ein Sechs-Stunden-Marsch.”
Doch der Einsatz lohnt sich, denn nach einer Initialphase werden die Anstrengungen zum Selbstläufer. So erhielt Bauer Seid die aus Europa eingeführten verbesserten Gemüsesamen im Jahr 2010 zunächst für 20 Prozent des tatsächlichen Preises.
Zwei Jahre später, als die Akzeptanz und die Nachfrage nach Gemüse gestiegen waren, verlangte die Stiftung 30 Prozent, im Folgejahr dann 50 Prozent, und seit 2014 bezahlen die Bauern die Samen zu 100 Prozent selbst. “So funktioniert Hilfe zur Selbstentwicklung”, erklärt Teferi Garedew: “Wenn wir uns aus einem Projektgebiet zurückziehen, kommen die Bauern ohne subventionierte Preise klar.”
Als Kind war Bauer Seid nur vier Jahre in der Schule, dann musste er sich als Hütejunge verdingen. “Mein erstes Paar billige Schuhe trug ich im Alter von 20 Jahren”, sagt Seid. “Alles, was ich heute bin, verdanke ich Menschen für Menschen.” Natürlich sollen es seine vier Kinder einmal noch besser haben. Am liebsten wäre es ihm, sie würden Landwirtschaft studieren und dann zurückkehren, um den Hof weiter zu professionalisieren und noch effizienter für die städtischen Märkte produzieren zu können. “Schauen Sie, wie weit ich gekommen bin”, sagt der Bauer. “Aber ich bin sicher, das ist nur der Anfang.”
Säen und Ernten
Für Bauer Seid wurden die Produktionsmittel von Menschen für Menschen zum Fundament seines Erfolges. Er erhielt zu einem subventionierten Preis:
- 400 Kaffee-Setzlinge
- 75 Mango-Setzlinge
- 300 Papaya-Setzlinge
- 25 Avocado-Setzlinge
- 550 Silbereichen-Setzlinge
- 400 Sesbania-Setzlinge
- Zahlreiche Gemüsesamen (Karotten, Kohl, Kassava, Zwiebeln, Rote Bete)
Starke Pflanzen ohne Gentechnik
Die Menschen in Äthiopien haben häufig nur Getreidearten zur Verfügung, die wenig Ertrag bringen. Deshalb versorgt Menschen für Menschen sie mit sogenanntem “verbessertem Saatgut”. Dieses stammt aus staatlichen landwirtschaftlichen Forschungsanstalten in Äthiopien, wo klassische und konventionelle Züchtung betrieben wird: Die Biologen kreuzen verschiedene Sorten, um das Saatgut besonders resistent, genügsam und ertragreich zu machen. So erreichen die Bäuerinnen und Bauern häufig eine Verdoppelung der Erträge. Die Gemüsesamen werden aus den Niederlanden importiert. Die Herstellerfirma Bakker Brothers setzt laut Eigenerklärung keinerlei Gentechnik ein.