Toyba und Hawa laufen eine Dreiviertelstunde nach Hause. Tsehaynesh, Jemal und ihre sechsjährige Schwester Samira haben einen Fußweg von rund zwanzig Minuten vor sich. Dort, vor der Holzhütte, die ihr Zuhause ist, wartet die Mutter schon auf die Kinder. „Anfangs war ich skeptisch“, sagt Zinet Zeleke, 28, die – genau wie ihr Mann Seid – nie eine Schule besuchen konnte. „Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihm der Unterricht bringen soll.“ Die Familie hatte ein wenig Geld vom Staat erhalten – eine Art Sozialhilfe, die Eltern von Kindern mit Behinderung beantragen können. „Wir wollten davon einen kleinen Kiosk aufmachen, in dem Jemal hätte arbeiten können“, erzählt Zinet. „Er kann die Geldscheine nämlich auseinanderhalten.“
Dann, vor zwei Jahren kam die Nachricht, dass er in Agamisa speziellen Unterricht erhalten kann. Dass die Schule Jemals Leben völlig verändern würde, hätte die Familie nicht für möglich gehalten. „Früher war er sehr isoliert“, erinnert sich die Mutter. Die anderen Kinder sprachen kaum mit ihm, dem Sonderling, der stets am Rockzipfel hing. „Doch seit er zur Schule geht, spielen sie mit ihm und helfen ihm, wo sie können. Er wirkt jetzt wirklich glücklich.“
Manchmal bleibt Jemal dennoch lieber im Haus. Dann beugt er sich über Bücher aus der Bibliothek und fährt stundenlang mit den Fingern über die Texte in Brailleschrift, liest einfache Geschichten auf Englisch oder Amharisch, probiert sich an Sachtexten über Biologie oder Geschichte. „Er weiß jetzt schon mehr als seine Eltern“, sagt Zinet und lächelt. Als sie ihren Sohn Jemal neulich fragte, was er einmal werden will, kam die Antwort prompt: „Lehrer“. Denkbar, dass Jemal eines Tages sehbehinderte Kinder in der Schule von Agamisa unterrichten wird. Dann würde ausgerechnet der Junge, der keine Feldarbeit leisten kann, seine Familie unterstützen können. Das wäre das nächste kleine Wunder von Agamisa.