Das Wunder von Agamisa
Die Mehrheit der Mädchen und Jungen im ländlichen Äthiopien wird in maroden Häusern aus Holz und Lehm unterrichtet. Die schlechte Ausstattung erschwert das Lernen und mindert Bildungserfolge. Menschen für Menschen errichtet moderne Schulgebäude, die ein menschenwürdiges Lernen möglich machen. Nur so kann das “Recht auf Bildung” umgesetzt werden.
Das Wunder von Agamisa beginnt an diesem Morgen, wie an jedem Wochentag, pünktlich um acht Uhr hinter brüchigen Lehmwänden. “Schulbibliothek” nennen sie diesen Raum, doch abgesehen von ein paar Alphabet-Plakaten und schiefen Bücherregalen an den Wänden erinnert er eher an eine Scheune.
Steiniger Boden, kleine Fenster, nur durch die Tür fällt ein wenig Licht auf eine Szene, die es in Äthiopien selten zu sehen gibt: Auf einer wackeligen Bank sitzt Jemal Zeleke, neun Jahre alt, in einem verwaschenen Trainingsanzug, zwei Nummern zu groß. Er hat den Kopf in die Handflächen gebettet, seine Augen starren ins Leere. Jemal ist seit seiner Geburt fast blind. Nur hell und dunkel nimmt er schemenhaft wahr. Neben ihm sitzt Hawa Geleta. Sie ist ebenfalls neun Jahre alt. Ein türkisfarbenes Tuch rahmt ihr Gesicht mit dem leichten Silberblick ein. Schwarze Pupillen folgen jeder Bewegung im Raum. Hawa ist gehörlos. Sie kann nur mithilfe von Gestik, Mimik und ein wenig Gebärdensprache kommunizieren.
Auf der anderen Seite des staubigen Tisches steht, im weißen Kittel, Berhanu Workneh, 38, der Lehrer von Jemal und Hawa. An diesem Vormittag steht Englisch auf dem Stundenplan, also hat Berhanu eine Reihe von Worten an eine Tafel geschrieben, die er laut vorliest: “mother”, “father”, “brother”, “sister”. Während er spricht, macht er die passenden Zeichen in Gebärdensprache. So können ihm beide folgen: Hawa, die Lippen liest, Gesten folgt und sie imitiert. Und Jemal, der die Worte hört und nachspricht. Später nimmt er eine Punktschrift-Tafel und einen speziellen Griffel zur Hand und stanzt die Worte – von Hawas wachen Augen beobachtet – in Brailleschrift auf Papier. Jemal ist ein schüchterner Junge, aber auf Berhanus Frage nach seinen Lieblingsfächern weiß er sofort eine Antwort: “Englisch und Amharisch natürlich!”
Behinderungen sind tabu
Ein blinder Junge und ein gehörloses Mädchen lernen gemeinsam Englisch, Amharisch oder Mathematik – das ist das “Wunder” von Agamisa. “Viele dieser Kinder sind in den Schulen sich selbst überlassen”, sagt Berhanu Workneh, der eine spezielle Ausbildung für den Unterricht von Sehbehinderten und Hörgeschädigten absolviert hat.
“Sie sitzen dann in der Ecke herum und können sich nicht beteiligen. Oft kommt es auch vor, dass die Eltern sie gar nicht erst in die Schule gehen lassen.”
Studien der Weltgesundheitsorganisation zufolge leiden mehr als 17 Prozent der Menschen in Äthiopien an körperlichen oder geistigen Einschränkungen – oft als Folge von Krankheiten, Unternährung, Krieg, Naturkatastrophen oder Unfällen. 85 Prozent dieser Menschen leben auf dem Land, 95 Prozent in Armut. Die Zahl der Schulkinder mit besonderem Unterstützungsbedarf soll zwischen anderthalb und drei Millionen liegen. Die Zahlen beruhen auf Schätzungen, denn offizielle Statistiken sind kaum zu erstellen: Behinderungen und manche Krankheiten sind in den von Traditionen geprägten ländlichen Regionen Äthiopiens tabuisiert. Nicht selten werden die Betroffenen von den eigenen Familienmitgliedern versteckt. Es ist ein Leben im Umkreis des Elternhauses ohne Teilhabe an der Dorfgemeinschaft. Ohne Freundschaften. Viele der Betroffenen landen irgendwann als Bettler auf der Straße.
Ein Schicksal, dass auch Jemal und Hawa hätte drohen können. Ihr Glück ist, dass sie in der Nähe des Dorfes Agamisa in Borena leben. Denn diese Schule unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von vielen anderen in Äthiopien: Hier unterrichtet ein Mann, der Gebärdensprache und Brailleschrift beherrscht – und der gelernt hat, sein Wissen weiterzugeben.
Von den mehr als 70 Schulen in der Region Borena bieten lediglich sechs Unterricht für sehbehinderte und hörgeschädigte Kinder an. Das ist zwar wenig, aber es ist ein Anfang, der die Macht hat, Wertvorstellungen zu beeinflussen: Warum sollte man Kinder mit Behinderungen isolieren, wenn selbst die Schule keine Mühe scheut, sie zu unterrichten? Die unmissverständliche Botschaft von Inklusion ist: Bildung muss für ausnahmslos alle da sein – auch für die Schwächsten.
Marode Schulgebäude
Was die Dorfschule von den meisten anderen Bildungseinrichtungen in der Provinz nicht unterscheidet, ist ihr Zustand. Das verrät schon ein kleiner Spaziergang über das weitläufige Gelände. Die Gebäude, aus Holz und Lehm errichtet, sind völlig marode und von Termiten zerfressen.
Sie wurden vor 30 Jahren gebaut, als in dieser Gegend noch wesentlich weniger schulpflichtige Kinder lebten. Heute zählt die Schule knapp 1.000 Mädchen und Jungen in acht Jahrgängen. Unterrichtet wird im Schichtbetrieb: Die Klassen 1 bis 4 am Vormittag, die Klassen 5 bis 8 am Nachmittag. Doch das entspannt die Lage in den Klassenzimmern auch nicht: Je vier Jungen und Mädchen sitzen Schulter an Schulter auf Schulbänken, die eigentlich für zwei Personen konstruiert wurden.
Gegen die Sandflöhe, die sie plagen, müssen die Schülerinnen und Schüler den nackten Lehmboden jede Woche erneut präparieren. Wasser, Dung und Heu, die sie dafür benötigen, bringen sie von zu Hause mit.
Wer die Kinder und Jugendlichen hier sitzen sieht, dicht gedrängt, während Windböen Staubwolken durch die offenen Türen und Fenster tragen, fragt sich, wie sie sich auch nur einen Moment auf Mathe, Geschichte oder Biologie konzentrieren können.
“Viele Bauernfamilien stellen den Wert von Schulbildung leider immer wieder in Frage”, erklärt Belete Assefa, 31. Er ist seit drei Jahren Rektor der Dorfschule von Agamisa und musste schon viele Gespräche mit Eltern führen, die ihre Kinder lieber auf dem Feld als weiter auf der Schulbank sähen. Nach der 8. Klasse sowieso, am liebsten aber schon früher. Belete kennt ihre Argumente, seine eigenen Eltern wollten auch nicht, dass er eine weiterführende Schule, rund 30 Kilometer entfernt von zu Hause, besucht. “Sie sagten mir Papier und Stifte kannst du nicht essen!” Mit der Unterstützung eines Onkels setzte er sich durch. “Heute sind meine Eltern froh darüber, denn ich kann sie finanziell unterstützen.” Mit seiner Geschichte hat Belete schon so manchen Bauern überzeugt, seine Kinder zur Schule zu schicken. “Natürlich kann nicht jedes Kind Schulrektor werden”, sagt Belete. “Aber Bildung trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Sie hilft Menschen, ihre Wünsche und Ziele zu erkennen und für sie einzutreten. Deshalb ist Bildung zentral für Entwicklung.”
Ein Schulplatz für jedes Kind
Es wird Belete Assefa leichter fallen, die Eltern seiner Schüler zu überzeugen, wenn der Bau der neuen Schule von Agamisa abgeschlossen ist. Noch tönt ein rhythmisches Hämmern von dem Nachbargrundstück herüber, auf dem Menschen für Menschen moderne Schulgebäude errichtet, die die alten bald ersetzen sollen.
Gemauerte Flachbauten mit stabilen Dachtrapezblechen und großen Fensterfronten, durch die das Sonnenlicht in die zwölf Klassenzimmer und den neuen Leseraum fallen wird. Hier wird jedes Kind einen eigenen Platz an einer der Schulbänke erhalten. Die Schultafeln werden um ein Vielfaches größer sein als die kleinen Quadrate, die an den Lehmwänden der alten Schule hängen. “Im Moment müssen die Lehrer ihre Notizen ständig wieder wegwischen, um etwas Neues an die Tafel zu schreiben”, sagt Belete. “Das erschwert es den Schülerinnen und Schülern, dem Stoff zu folgen.” Im Lauf des nächsten Jahres wollen sie die neuen Räume beziehen. Erfahrungsgemäß werden die Leistungen der Schüler dann steigen, die Abbrecherquote wird sinken. “Eltern schicken ihre Kinder lieber zur Schule, wenn sie modern und intakt ist”, weiß Belete.
Früher war Jemal isoliert
Es ist Mittag geworden, und als Jemal und Hawa in der Schulbibliothek ihre Sachenpacken, stehen schon zwei Mädchen in der Tür. Toyba, 11, die Schwester von Hawa und Tsehaynesh, 13, die Schwester von Jemal. Wenig später machen sie sich auf den Weg.
Toyba und Hawa laufen eine Dreiviertelstunde nach Hause. Tsehaynesh, Jemal und ihre sechsjährige Schwester Samira haben einen Fußweg von rund zwanzig Minuten vor sich. Dort, vor der Holzhütte, die ihr Zuhause ist, wartet die Mutter schon auf die Kinder. “Anfangs war ich skeptisch”, sagt Zinet Zeleke, 28, die – genau wie ihr Mann Seid – nie eine Schule besuchen konnte. “Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihm der Unterricht bringen soll.” Die Familie hatte ein wenig Geld vom Staat erhalten – eine Art Sozialhilfe, die Eltern von Kindern mit Behinderung beantragen können. “Wir wollten davon einen kleinen Kiosk aufmachen, in dem Jemal hätte arbeiten können”, erzählt Zinet. “Er kann die Geldscheine nämlich auseinanderhalten.”
Dann, vor zwei Jahren kam die Nachricht, dass er in Agamisa speziellen Unterricht erhalten kann. Dass die Schule Jemals Leben völlig verändern würde, hätte die Familie nicht für möglich gehalten. “Früher war er sehr isoliert”, erinnert sich die Mutter. Die anderen Kinder sprachen kaum mit ihm, dem Sonderling, der stets am Rockzipfel hing. “Doch seit er zur Schule geht, spielen sie mit ihm und helfen ihm, wo sie können. Er wirkt jetzt wirklich glücklich.”
Manchmal bleibt Jemal dennoch lieber im Haus. Dann beugt er sich über Bücher aus der Bibliothek und fährt stundenlang mit den Fingern über die Texte in Brailleschrift, liest einfache Geschichten auf Englisch oder Amharisch, probiert sich an Sachtexten über Biologie oder Geschichte. “Er weiß jetzt schon mehr als seine Eltern”, sagt Zinet und lächelt. Als sie ihren Sohn Jemal neulich fragte, was er einmal werden will, kam die Antwort prompt: “Lehrer”. Denkbar, dass Jemal eines Tages sehbehinderte Kinder in der Schule von Agamisa unterrichten wird. Dann würde ausgerechnet der Junge, der keine Feldarbeit leisten kann, seine Familie unterstützen können. Das wäre das nächste kleine Wunder von Agamisa.