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„Afrika ist für Europa eine Jahrhundertaufgabe“

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Interview
18.06.2020
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Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über die Chancen des Reformlandes Äthiopien auf dem Wachstumsmarkt von morgen, Leuchtturmprojekte moderner Entwicklungszusammenarbeit und die Auswirkungen von Covid-19 auf dem afrikanischen Kontinent.

Herr Minister Müller, die drängendste Frage vorab: Welche Folgen hat das Coronavirus in Entwicklungsländern wie Äthiopien?

Gerd Müller: In Äthiopien kommen auf 109 Millionen Einwohner nur 150 Intensivbetten. In anderen afrikanischen Ländern ist es noch schlimmer. Ausreichend vorbereitete Krankenhäuser gibt es ohnehin nur in den Großstädten. Deswegen müssen wir die Gesundheitsstrukturen sehr schnell stärken und eine dramatische Wirtschaftskrise verhindern. Ansonsten drohen Hunger, Armut und Unruhen. Jetzt ist die Stunde der Solidarität – vor allem mit den ärmsten Menschen auf der Welt. Denn uns muss klar sein: Corona besiegen wir nur gemeinsam in der Welt – oder gar nicht.

Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed erhielt im Herbst letzten Jahres den Friedensnobelpreis. Welche Rolle kann diese Auszeichnung für die Entwicklung seines Landes spielen?

Müller: Der Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed kann einen Schub für das ganze Land auslösen. Schon jetzt gibt Abiy – innen- wie außenpolitisch – ein beeindruckendes Reformtempo vor. Eine Entwicklung, die manche in ihrer Bedeutung mit dem deutschen Mauerfall vergleichen. Wichtig ist, dass sich diese Aufbruchsstimmung jetzt auch auf die Lebensbedingungen der vielen jungen Menschen überträgt.

Weshalb kann Äthiopien Vorreiter für Frieden, aber auch für Reformen und Aufschwung in der Region sein?

Müller: Äthiopien ist mit 100 Millionen Einwohnern und seinem wirtschaftlichen Potential ein wichtiger Stabilitätsanker in der Region. Die Reformdynamik kann dem gesamten Horn von Afrika einen Schub zu mehr Demokratie und Wirtschaftswachstum verleihen. In den Nachbarländern wird sehr aufmerksam verfolgt, ob Äthiopien mit seinem Reformweg erfolgreich ist – insbesondere von den jungen Menschen in Eritrea oder Somalia.

Wo sehen Sie mögliche Schwierigkeiten Äthiopiens als potentieller Vorreiter auf dem Chancen- und Wachstumsmarkt von Morgen?

Müller: Die neuen Freiheiten führen dazu, dass einzelne Gruppen in dem Vielvölkerstaat nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit streben. Deswegen ist es zentral, dass das Land stabil bleibt und alle Menschen mitgenommen werden. Eine weitere Herausforderung ist der Klimawandel. Im Grenzgebiet zum Sudan hat es seit Jahren nicht geregnet. Millionen Äthiopier sind in ihrer Existenz bedroht oder mussten ihre angestammten Gebiete bereits verlassen. Darauf reagieren wir: Zum Beispiel mit klimaangepassten Anbaumethoden in der Landwirtschaft und dem Einsatz kleiner Landmaschinen, um die Erträge zu steigern. Damit die vom Klimawandel betroffenen Menschen auch in Zukunft eine Perspektive in ihrer Heimat haben.

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„Organisationen wie Menschen für Menschen sind unverzichtbar“

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Deutschland hat kürzlich eine enge Reformpartnerschaft mit Äthiopien vereinbart. Was bedeutet das konkret?

Müller: Unsere Reformpartnerschaften sind eine neue Form der Zusammenarbeit mit afrikanischen Reformchampions. Wer reformiert, profitiert von zusätzlichen Mitteln und einer vertieften Zusammenarbeit. Die äthiopische Seite hat sich zum Kampf gegen Korruption, zu guter Regierungsführung, dem Umbau der Staatswirtschaft und der Einhaltung von Sozialstandards verpflichtet. Wir unterstützen im Gegenzug Äthiopien dabei, die Privatwirtschaft weiter anzukurbeln und Arbeit und Ausbildung sowie Jobs für die Jugend zu schaffen.

Wie sehen Projekte aus, die den wirtschaftlichen Aufschwung über städtische Zentren hinaus in die ländlichen Regionen ausrollen und die vielfältigen Probleme der Menschen auf dem Land einbeziehen?

Müller: Genau das ist auch unser Ziel: moderne Arbeitsplätze in den ländlichen Gebieten, nicht nur in den Großstädten. Wir unterstützen beispielsweise Bauern bei der Verarbeitung ihrer Produkte, damit sie diese in die Städte liefern können. Denn durch das Wachstum in den Städten steigt die Nachfrage nach vielen Gütern, auch nach Lebensmitteln. Nehmen Sie zum Beispiel Weizen: Äthiopien importiert immer noch große Mengen an Weizen, hat aber das Potenzial, den Weizen selbst zu produzieren und etwa zu Teigwaren weiter zu verarbeiten. Das unterstützen wir, damit mehr Wertschöpfung in den ländlichen Regionen ankommt.

Welche Rolle spielen NGOs bei der Umsetzung?

Müller: Das Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Menschen für Menschen ist unverzichtbar und ergänzt unsere staatliche Entwicklungszusammenarbeit auf vielfältige Weise: Sie sind auch in entlegenen Regionen aktiv, helfen unmittelbar bei den Menschen und bauen so langfristige Beziehungen in unseren Partnerländern in allen gesellschaftlichen Bereichen auf. Ein Beispiel: Bei meiner letzten Reise nach Äthiopien im Dezember 2019 habe ich gemeinsam mit Arbeitsminister Heil den Grundstein für eine von Menschen für Menschen gebaute Schule im Flüchtlingscamp Gambela gelegt. In dem Lager im Westen des Landes leben 55.000 Kinder, die Bildung brauchen. Auch im Bereich Landwirtschaft ist Menschen für Menschen ein wichtiger Partner: Gemeinsam bilden wir 500 arbeitslose Jugendliche in landwirtschaftlichen Techniken und Mechanisierung aus.

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Minister Müller (CSU) mit Menschen für Menschen-Vorstand Peter Renner und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bei der Grundsteinlegung einer Schule im Flüchtlingscamp Gambela. Fotos: Ute Grabowsky/Photothek.
Minister Müller (CSU) mit Menschen für Menschen-Vorstand Peter Renner und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bei der Grundsteinlegung einer Schule im Flüchtlingscamp Gambela. Fotos: Ute Grabowsky/Photothek.
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Welche Bedeutung hat die Entwicklung von afrikanischen Staaten wie Äthiopien für Europa?

Müller: Unser Nachbarkontinent Afrika ist für Europa eine Jahrhundertaufgabe, aber auch eine Jahrhundertchance. Deswegen brauchen wir einen Jahrhundertvertrag zwischen der EU und Afrika mit fünf Punkten: gemeinsame Sicherheitsstrukturen – unter anderem für die Sahel-Region, ein Abkommen zur Regelung der Migration, eine Landwirtschaftsoffensive zur Beendigung des Hungers in Afrika, eine Energie- und Klimapartnerschaft und ein Neuansatz in den Handelsbeziehungen mit fairen Lieferketten. Diese fünf Punkte müssen wir in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab Sommer 2020 beschließen.

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Die lokale Wertschöpfung voranbringen

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Jedes Jahr drängen fast zwei Millionen junge Äthiopier auf den äthiopischen Arbeitsmarkt. Wie kann Äthiopien bei der Bewältigung dieser Herausforderung, aber auch bei der Nutzung dieses Potenzials unterstützt werden?

Müller: Das ist eine riesige Herausforderung. Deswegen gehört Äthiopien zu den ersten Ländern, in denen wir unsere Sonderinitiative Ausbildung und Beschäftigung gestartet haben. Mit dieser Initiative wollen wir 100.000 neue Arbeitsplätze und 30.000 Ausbildungsplätze schaffen – gemeinsam mit engagierten äthiopischen und deutschen Unternehmen, die vor Ort investieren, ausbilden und die lokale Wertschöpfung voranbringen.

Wir dürfen Sie zitieren: „Wir müssen mit unseren öffentlichen Geldern Zukunftslösungen anstoßen und Leuchttürme schaffen.“ Können Sie uns einige dieser Leuchttürme in Äthiopien nennen und erläutern, wie moderne Entwicklungszusammenarbeit funktionieren kann?

Müller: Unsere Entwicklungszusammenarbeit hat vier Säulen: Eigenleistung der Partner, private Investitionen, fairer Handel und unsere Entwicklungszusammenarbeit, die Leuchttürme schafft und Rahmenbedingungen verbessert. Einer unserer Leuchttürme in Äthiopien ist das Grüne Innovationszentrum. Mit neuen Sorten und Anbautechniken sowie angepassten, kleineren Landmaschinen helfen wir bei der dringend erforderlichen Modernisierung der Landwirtschaft. Menschen für Menschen ist auch hier ein enger Partner. Wir arbeiten zusammen an Agrarinnovationen, etwa bei der besseren Bestäubung der Felder durch Bienen. Mit dem Honig haben die Bauern gleichzeitig eine weitere Einkommensquelle.

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„Gemeinsam auf den Weg machen“

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Was ist für Sie, Herr Minister, das Besondere an der Arbeitsweise der Äthiopienhilfe?

Müller: Die Arbeit von Menschen für Menschen zeichnet sich in besonderem Maß durchihre großen Expertise und ihren langen Atem aus. Vor allem aber ist sie ganz nah bei den Menschen und weiß genau, wo sie ansetzen muss.

Was ist Ihr Wunsch für das Jahr 2027, also zehn Jahre Marshall-Plan?

Müller: Mein Ziel ist es, dass wir bis dahin Millionen Menschen aus Hunger und Armut befreit haben – durch bessere Bildung und Gesundheitsversorgung und durch digitale Innovationen. Statt auf Kaffeeplantagen zu schuften, gehen Kinder zur Schule und machen später eine Ausbildung zum IT-Spezialisten. Der Handel zwischen Europa und Afrika ist auf eine faire Grundlage gestellt und viele afrikanische Länder verarbeiten ihre Rohstoffe selbst. Vielleicht brauchen wir dafür mehr als zehn Jahre. Aber wichtig ist, dass wir uns jetzt gemeinsam mit engagierten Organisationen wie Menschen für Menschen, den Kirchen und Unternehmen auf den Weg machen.

 

Das Interview mit Gerd Müller ist in unserem aktuellen NAGAYA MAGAZIN 2.20 erschienen – hier geht’s zum E-Paper.

Die Stiftung Menschen für Menschen - Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe ist eine öffentliche Stiftung des bürgerlichen Rechts. Sie wird beim Finanzamt München unter der Steuernummer 143/235/72144 geführt und wurde zuletzt mit Bescheid vom 6. September 2021 wegen Förderung steuerbegünstigter Zwecke von der Körperschafts- und Gewerbesteuer befreit und somit als gemeinnützige Organisation anerkannt.