Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über die Chancen des Reformlandes Äthiopien auf dem Wachstumsmarkt von morgen, Leuchtturmprojekte moderner Entwicklungszusammenarbeit und die Auswirkungen von Covid-19 auf dem afrikanischen Kontinent.
Herr Minister Müller, die drängendste Frage vorab: Welche Folgen hat das Coronavirus in Entwicklungsländern wie Äthiopien?
Gerd Müller: In Äthiopien kommen auf 109 Millionen Einwohner nur 150 Intensivbetten. In anderen afrikanischen Ländern ist es noch schlimmer. Ausreichend vorbereitete Krankenhäuser gibt es ohnehin nur in den Großstädten. Deswegen müssen wir die Gesundheitsstrukturen sehr schnell stärken und eine dramatische Wirtschaftskrise verhindern. Ansonsten drohen Hunger, Armut und Unruhen. Jetzt ist die Stunde der Solidarität – vor allem mit den ärmsten Menschen auf der Welt. Denn uns muss klar sein: Corona besiegen wir nur gemeinsam in der Welt – oder gar nicht.
Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed erhielt im Herbst letzten Jahres den Friedensnobelpreis. Welche Rolle kann diese Auszeichnung für die Entwicklung seines Landes spielen?
Müller: Der Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed kann einen Schub für das ganze Land auslösen. Schon jetzt gibt Abiy – innen- wie außenpolitisch – ein beeindruckendes Reformtempo vor. Eine Entwicklung, die manche in ihrer Bedeutung mit dem deutschen Mauerfall vergleichen. Wichtig ist, dass sich diese Aufbruchsstimmung jetzt auch auf die Lebensbedingungen der vielen jungen Menschen überträgt.
Weshalb kann Äthiopien Vorreiter für Frieden, aber auch für Reformen und Aufschwung in der Region sein?
Müller: Äthiopien ist mit 100 Millionen Einwohnern und seinem wirtschaftlichen Potential ein wichtiger Stabilitätsanker in der Region. Die Reformdynamik kann dem gesamten Horn von Afrika einen Schub zu mehr Demokratie und Wirtschaftswachstum verleihen. In den Nachbarländern wird sehr aufmerksam verfolgt, ob Äthiopien mit seinem Reformweg erfolgreich ist – insbesondere von den jungen Menschen in Eritrea oder Somalia.
Wo sehen Sie mögliche Schwierigkeiten Äthiopiens als potentieller Vorreiter auf dem Chancen- und Wachstumsmarkt von Morgen?
Müller: Die neuen Freiheiten führen dazu, dass einzelne Gruppen in dem Vielvölkerstaat nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit streben. Deswegen ist es zentral, dass das Land stabil bleibt und alle Menschen mitgenommen werden. Eine weitere Herausforderung ist der Klimawandel. Im Grenzgebiet zum Sudan hat es seit Jahren nicht geregnet. Millionen Äthiopier sind in ihrer Existenz bedroht oder mussten ihre angestammten Gebiete bereits verlassen. Darauf reagieren wir: Zum Beispiel mit klimaangepassten Anbaumethoden in der Landwirtschaft und dem Einsatz kleiner Landmaschinen, um die Erträge zu steigern. Damit die vom Klimawandel betroffenen Menschen auch in Zukunft eine Perspektive in ihrer Heimat haben.