Hirte Lemi Oda und die Dromedare machen am Fluss Awash eine Trinkpause.

Hüter der Tradition: Unterwegs mit Wanderhirten

08
Sep. 2025

Aktuelles

Es ist ein ungewöhnlicher Grund für einen Verkehrsstau: Etwa 300 Dromedare, ausgewachsene Tiere mit ihrem Nachwuchs, trotten über die Autobrücke. Sie recken ihre Hälse in die Höhe, gurren melodisch. Am Ende der Karawane läuft Lemi Oda. Der 18-Jährige achtet darauf, dass alle Tiere sicher zum Flussbett des Awash gelangen. Nach einigen Minuten gibt er die Straße wieder frei. Vor einer Woche sind er und fünf weitere Wanderhirten aufgebrochen. Sie gehören zum Volk der Karayu, Halbnomaden, die im Norden des Bundesstaates Oromia im Tiefland Äthiopiens leben.

 

Während ein Teil der Gemeinschaft, vor allem die Frauen, Kinder und Ältesten, rund um den Vulkan Fantala siedeln, ziehen junge Karayu-Männer wie Lemi mit den Dromedaren mehrere Monate im Jahr umher. Sie wandern von einer Weidefläche zur nächsten. Immer dem Regen nach. „Wir führen die Tiere zum Grasen durch höher- und tiefer liegende Gebiete“, erklärt Lemi. „Dort finden sie unterschiedliche Bäume, Sträucher und Gräser.“ Lemi und die anderen kennen jedes Dromedar beim Namen. Nachts schlafen sie neben ihnen, unter freiem Himmel in improvisierten Lagern. Der Großteil der Herde ist weiblich. Die Hengste verkaufen die Hirten meist. Um die 1.000 Euro bekommen sie auf dem Viehmarkt pro Tier – und investieren es direkt wieder. „Geld fliegt wie der Wind davon“, sagt Lemi. „Aber ein großes, gesundes Dromedar kann dir so schnell keiner nehmen.“ Während sie umherziehen, ernähren sich die Nomaden nahezu ausschließlich von der Kamelmilch. Etwa sechs bis sieben Liter gibt eine Dromedar-Dame am Tag.

„Sie zu melken, muss man lernen“, sagt Lemi. „Fühlen sie sich nicht wohl, wehren sie sich mit Tritten.“ Auf seinen ersten Reisen wurde er von älteren Hirten begleitet. „Es war sehr hart“, erinnert er sich. „Ich hatte schreckliches Heimweh.“ Doch bald zog er mit seinen Freunden alleine los. „Heute wissen wir, wie wir die Tiere versorgen müssen und wo zu welchem Zeitpunkt Wasser und Futter zu finden sind.

Dromedare in der Mittagssonne.
Junge Karayu-Männer wie Lemi ziehen mit den Dromedaren mehrere Monate im Jahr umher.

Doch die nomadische Lebensweise der Karayu ist bedroht. Dürren häufen sich. Große Teile ihrer Weidegebiete werden von Zuckerrohrplantagen, Ackerland und Naturschutzgebieten beschnitten. Daher dringen die Karayu-Hirten in Gebiete benachbarter Stämme ein. Eine Folge: gewaltsame, zum Teil tödliche Auseinandersetzungen. Auch die Reisen von Lemi haben sich verändert. „Wir müssen viel häufiger die asphaltierte Straße überqueren“, sagt er. „Das kann gefährlich sein.“ Diktiert von den Jahres- und Regenzeiten monatelang durchs Land zu ziehen, im Einklang mit der Natur die Traditionen seines Volkes weiterzuführen – das ist Lemis Leben. Er kann es sich kaum anders vorstellen. Und schon jetzt freut er sich, wieder zu Hause anzukommen. „Wir werden dann wie Helden gefeiert.“

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