
Geburtsort des Erfolgs
Ausbildung am ATTC
Um dem äthiopischen Arbeitsmarkt gut ausgebildete Fachkräfte zuzuführen, gründete Menschen für Menschen in den neunziger Jahren das Agro Technical und Technology College (ATTC). Bis heute ist es sehr beliebt. Während die einen auf ihren Studienplatz warten und andere über ihren Abschlussprojekten brüten, planen die Alumni, dem College endlich etwas zurückzugeben.
Zukunftsweisender Aufnahmetest
Im Hörsaal einer Berufsschule in Addis Abeba herrscht angespannte Stille. Über die Reihen verteilt sitzen rund 150 junge Frauen und Männer. Sie alle haben ein Ziel: Einen Platz am ATTC zu ergattern. Saba Karl blättert auf die nächste Seite ihres Aufnahmetests. Die Hälfte der insgesamt 100 Fragen hat sie schon beantwortet. „Mathe war der schwerste Teil für mich“, verrät Saba später. Wie für alle hier, wäre ein Studium an diesem College in Harar ihr größter Traum. Und die Fortsetzung ihres bisherigen Lebenswegs.
Nachdem sie als Säugling in einem Waldstück gefunden wurde und keine Angehörigen ausfindig gemacht werden konnten, kam Saba ins Abdii-Borii-Kinderheim. Dieses hat Menschen für Menschen 1996 in der westäthiopischen Kleinstadt Mettu für Waisenkinder eröffnet. Bis heute kennt die 20-Jährige weder Mutter, noch Vater. Sie weiß nicht, ob sie leibliche Geschwister hat, wer ihre Großeltern, Tanten oder Onkel sind. „Aber ich habe eine große, tolle Familie“, sagt Saba. Unter den wachsamen Augen ihrer Heimmutter, wuchsen sie und ihre Heimschwestern und -brüder in Geborgenheit auf. Sie spielten und lernten gemeinsam. „Die meiste Zeit verbrachte ich in unserer Tischlerei“, erinnert sich Saba an ihre frühe handwerkliche Leidenschaft.
Als ihr die Leitung des Abdii Boriis vom ATTC und den vielen praktischen Kursen dort erzählte, war Saba begeistert. Um ihrem Zögling bei der aufregenden Bewerbung beizustehen, hat ihre Heimmutter sie in die Hauptstadt begleitet. „Ich kann es kaum erwarten, zu ihr ins Hotelzimmer zurückzukehren und ihr alles zu berichten“, sagt Saba. „Auch alle zuhause haben mir heute ganz fest die Daumen gedrückt.“ Erhält Saba einen Studienplatz, würde sie in beträchtliche Entfernung ihres gewohnten Umfeldes ziehen. Zwischen Mettu und Harar liegen mehr als 1.000 Kilometer. Trotzdem glaubt sie, dass sie sich leicht am College einleben würde. „Ich bin es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren zusammenzuwohnen“, sagt sie. Außerdem kenne sie die Stiftung, ihre Werte, und Gründer Karlheinz Böhm sei für sie wie ein Vater. „In seinem College zu lernen, wäre wie nach Hause zu kommen.“


Gute Jobs für gute Leistung
Während Saba noch auf ihre Ergebnisse wartet, steht Jerusalem Bekana bereits kurz vor dem Ende ihres Studiums in Elektrik und Elektrotechnik. Nach den Semesterferien ist sie für ihr letztes Jahr ans ATTC zurückgekehrt. „Ich habe meine freie Zeit vor allem mit meiner Familie verbracht“, berichtet die schmächtige 22-Jährige, „und habe versucht, mich auf meine Kurse vorzubereiten.“ Sie fragte ehemalige Studierende nach Unterrichtsmaterial, recherchierte zu den Kursthemen im Internet. „Ich möchte meine Leistung noch einmal steigern, um einen guten Job zu finden.“
Motivierten jungen Menschen wie Jerusalem den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu ebnen, ist das Ziel, das Menschen für Menschen seit Gründung des ATTC anstrebt. Mit Erfolg: Die Absolventen des Colleges sind als Techniker, Ingenieure und Mechaniker gefragt. Neben Elektrik und Elektrotechnik können die Studentinnen und Studenten am ATTC in Fertigungs- und Automobiltechnik einen Bachelorabschluss machen. Das Studium ist für sie kostenlos: Maschinen, Werkzeuge, Arbeitskleidung, Lehrbücher, die Unterkunft und Verpflegung der 471 Studierenden des aktuellen akademischen Jahres werden durch Spenden und über Stipendien von deutschen Firmen getragen, wie der Bürkert Werke GmbH & Co. KG. Rund 40 Frauen finanziert das Technologieunternehmen ihre Ausbildung. Darunter auch Jerusalem.
Als eine von vier Geschwistern ist sie in Fincha im Bundesstaat Oromia aufgewachsen. Vor den Toren der Stadt stehen zwei Wasserkraftwerke. Wie sie Strom produzieren und was danach damit passiert, hat Jerusalem immer fasziniert. „Ich wollte schon seit meiner Kindheit, Elektroingenieurin werden“, erklärt sie ihre Studienwahl. Sie erinnert sich noch genau an ihre ersten Tage am ATTC. „Viele von uns waren noch nie so weit weg von zuhause.“ Mit den fünf anderen jungen Frauen in ihrem Schlafsaal sprach Jerusalem zu Beginn kaum. „Wir waren alle sehr schüchtern“, sagt sie und kichert. „Heute kaum noch vorstellbar.“ Aus den Fremden, die aus unterschiedlichen Regionen Äthiopiens kommen, anderen Ethnien und verschiedenen Religionen angehören, sind enge Freundinnen geworden. Sie helfen sich bei den Seminaraufgaben, gehen zusammen in die Bibliothek, schmieden Ideen für ihre praktischen Abschlussprojekte. Am Wochenende fahren die Mädchen manchmal in die Innenstadt Harars zum Shoppen oder schauen abends zusammen Filme auf ihren Handys. „Nach unserem Abschluss werde ich den Zusammenhalt auf dem Campus am meisten vermissen“, sagt Jerusalem. Um mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen in Kontakt zu bleiben und auch aus der Ferne weiterhin etwas vom ATTC mitzubekommen, plant sie dem vor kurzem gegründeten Alumni-Verein beizutreten.


Wirkungsvolles Wiedersehen
„Es war gar nicht so einfach, die Ehemaligen zu finden“, berichtet Tesfaye Kassahun. Der 40-Jährige, einst selbst Student am ATTC, arbeitet heute als Dozent für Fertigungstechnik. Über das Registrierungsbüro des Colleges und per Internetrecherche gelang es ihm aber, viele Absolventinnen und Absolventen ausfindig zu machen und zu einer gemeinsamen Chatgruppe einzuladen. Im Sommer 2024, während der Semesterferien, hielt der Verein seine erste Versammlung ab. Mehr als 150 ehemalige Studierende aus ganz Äthiopien nahmen teil. Außerdem reisten einige aus dem Ausland an. „Es war toll, so viele alte Bekannte wiederzusehen“, sagt Tesfaye. „Wir übernachteten sogar alle noch einmal in den Schlafsälen“, erzählt der einstige Automobiltechnik-Student Dejene Edossa begeistert. Bei der Versammlung wurde er für drei Jahre zum Vereinspräsidenten gewählt.
Über den Verkauf von eigens angefertigten T-Shirts, der Versteigerung eines Karlheinz Böhm Porträts und persönlichen Spenden konnten die Alumni erstes Geld sammeln. Damit wollen sie die Wände der alten Wohnheim-Blöcke streichen lassen. Viele, die heute ihre eigenen Firmen führen, haben angeboten, Studentinnen und Studenten Praktika zu ermöglichen. Andere könnten sich vorstellen, als Gastdozenten Vorträge zu halten. „Wir planen außerdem ein Mentorenprogramm ins Leben zu rufen“, erzählt Dejene. „So, dass jeder Ehemalige eine aktuelle Studentin oder einen aktuellen Studenten betreut.“
Der 28-Jährige arbeitet für Ethio Telecom, dem landesweit größten Telekommunikationsanbieter, und verantwortet in der Niederlassung in Harar sämtliche Wartungen und Reparaturen der Unternehmensfahrzeuge. Schon heute bringt er sie zum Teil ans College, um dort die einzige Reifenwuchtmaschine der Stadt zu nutzen. „Wir könnten die Werkshallen für noch viel mehr Reparaturen nutzen“, sagt er. Studierende, die bisher mit den immer gleichen alten, ausrangierten Fahrzeugen übten, würden so mit unterschiedlichen Autos und realen Herausforderungen konfrontiert werden. „Ohne die Stiftung und das College wäre ich heute nicht da, wo ich bin“, erklärt Dejene sein ehrenamtliches Engagement. „Ich möchte nun endlich etwas zurückgeben.
Eine, die davon profitieren wird, ist Saba. Wenige Wochen nach dem Aufnahmetest erfuhr sie: Sie hat es geschafft und darf ihre Zukunft am ATTC starten.

