In zwei Reihen stehen sich die Sänger gegenüber. Im Takt der Trommeln wippen sie von einem Bein aufs andere, verbreiten ihren kehligen Gesang mit voller Kraft in das Schiff der Dreifaltigkeitskirche in Addis Abeba. Die Trommelschläge werden schneller, plötzlich fangen die Männer an zu klatschen, gehen aufeinander zu, springen in die Luft – und bleiben wenig später langsam wankend erneut nebeneinander stehen.
Himmlische Klänge: die Kraft der alten äthiopischen Kirchenmusik
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Yareds Melodien
Der Legende nach liegt der Ursprung dieser Darbietung in der Willenskraft einer kleinen Raupe. Sie soll es gewesen sein, die das Leben des Heiligen Yared für immer ändern sollte und aus ihm den wichtigsten Komponisten der äthiopisch-orthodoxen Kirchenmusik machte. Geboren Anfang des 6. Jahrhunderts in Aksum im Norden Äthiopiens, tat sich der junge Yared in der Priesterschule schwer. Er konnte sich die Psalmen nicht merken, war stets der Schwächste. Enttäuscht floh er, um ein neues Leben zu beginnen. Als er auf seiner Wanderschaft von einem Wolkenbruch überrascht wurde, rettete er sich unter einen Baum. Dort wurde er Zeuge des Kampfes der kleinen Raupe. Wieder und wieder versuchte sie den Stamm emporzuklettern, sechsmal fiel sie. Doch beim siebten Mal gelang es ihr. Yared war sich sicher: Was sie schafft, schaffe ich auch!
Er kehrte nach Aksum zurück, wurde einer der besten Schüler und widmete sich der religiösen Musik. Inspiriert durch die Bibel und eine göttliche Eingebung, die sich ihm in Form dreier vom Himmel geschickter Vögel und ihres Gesangs zeigte, komponierte er Lieder und Melodien, die bis heute in den zahlreichen orthodoxen Kirchen erklingen: jeden Sonntag und an Feiertagen, wie Ostern, dem äthiopischen Tauffest oder Weihnachten.
Verbunden durch Musik
Dereje Sahile führt durch die Dreifaltigkeitskirche im Norden der Hauptstadt, eine der wichtigsten des Landes. „Welche Melodien gesungen werden, ist von Jahreszeit und Anlass abhängig“, sagt der Diakon.
Um Gesang, Tanz und Instrumente perfekt zu beherrschen, müssten die Sänger bis zu 15 Jahre üben, erklärt Dereje und erläutert die wichtigsten Instrumente: das Tsenatsil, eine Rassel; die Mekuwamia, die T-förmigen Gebetsstöcke, auf denen sich die Priester und Kirchensänger bei den langen Gottesdiensten abstützen und mit dem sie im Takt auf den Boden stampfen, und schließlich die Kabaro, eine Trommel mit zwei mit Kuhfell bespannten Schlagflächen. „Die kleinere Seite steht dabei symbolisch für das Alte, die große für das Neue Testament“, sagt Dereje. Stehen die Sänger bei ihren Auftritten in der Kirche dicht an dicht, fließen ihre weißen Roben und Stimmen ineinander. Es ist zu spüren, wie Glaube und Musik Menschen vereinen kann. Manchmal auch mit jenen, die nicht mehr da sind.
Wenn sich Dereje die schwere Kabaro umhängt, denkt er an seinen Vater. Er war der Erste, der ihm die traditionelle Musik gezeigt hat. Viel zu früh starb er. Schließt Dereje beim Schlagen der Trommel die Augen, fühlt er sich mit ihm verbunden.