
Glück im Unglück
Wie das Abdii-Borii-Kinderheim eine Chance sein kann
Weit mehr als 400 Kinder sind bisher im Abdii-Borii-Kinderheim aufgewachsen. Hier erleben sie zumeist sorgenfreie Jahre. Nach ihrem Auszug finanziert Menschen für Menschen ihre Ausbildung. Aus vielen sind mittlerweile erfolgreiche Bürger geworden – die gerne an ihre Zeit im Heim denken und der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen.
Vom Schützling zum Geschäftsmann
Kahssay Eshe ist ein findiger Geschäftsmann. Während sich im Hinterhof seines Handwerksbetriebs die Werkstatt versteckt, präsentiert er auf der Ausstellungsfläche direkt an der vielbefahrenen Hauptstraße Mettus seine Produkte. Den meisten Platz nimmt seine neuste Entwicklung ein: ausladende Sofagarnituren für bis zu sieben Personen.
50.000 Birr, umgerechnet knapp 400 Euro, verlangt er für das größte Set. „Ich habe mir das Design überlegt und erarbeite mit meinem Polsterer unterschiedliche Modelle“, berichtet er. Ein paar wenige Bestellungen gibt es bereits. „Doch am besten laufen noch immer unsere Türen und Fensterrahmen aus Metall“, sagt Kahssay.

Der heute knapp 50-Jährige wurde in Tigray geboren. Mitte der Achtzigerjahre, als eine verheerende Dürre vor allem den Norden des Landes ergriff, floh seine Familie in den westäthiopischen Bezirk Illubabor, in dem auch Mettu liegt. Doch auch hier reichte es kaum zum Überleben. Kahssays ältere Geschwister verdingten sich als Feldarbeiter. Ihrem jüngsten Sohn, der in der Heimat die vierte Klasse besucht hatte, wollten die Eltern jedoch eine andere Zukunft ermöglichen. Schweren Herzens beschlossen sie, ihn in die Obhut eines Kinderheims zu geben. In der Kleinstadt Yayu. „Die ersten Wochen vermisste ich meine Mutter schrecklich“, erinnert sich Kahssay. „Doch die anderen Kinder lenkten mich ab. Und ich wollte unbedingt weiter lernen.“
Ein Heim, das Leben verändert
Obwohl sein Wunsch wahr wurde und er an eine Grundschule zurückkehrte, war die Zeit damals nicht einfach. Die von der Regierung geführte Einrichtung in Yayu war in einem sehr schlechten Zustand. Als Karlheinz Böhm das Heim auf einer seiner Reisen besuchte, beschloss er zu helfen: Fortan unterstützte Menschen für Menschen es finanziell, spendete Spielzeug. Die Stiftung baute neue Gebäude und stattete sie mit Möbeln aus. Gleichzeitig träumte Karlheinz Böhm von einem stiftungseigenen Waisenhaus. 1996 wurde das Kinderheim Abdii Borii in Mettu eingeweiht.
Kahssay hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Schulabschluss und besuchte, finanziert von Menschen für Menschen, eine technische Berufsschule in Addis Abeba. Danach kehrte er nach Illubabor zurück und arbeitete 14 Jahre lang im gleichnamigen Projektgebiet der Stiftung als Mechaniker. „Dann wollte ich auf eigenen Füßen stehen“, sagt Kahssay.

Der Betrieb des dreifachen Familienvaters liegt nur wenige Autominuten vom Abdii-Borii-Kinderheim entfernt. Denke er über die Waisen und Halbwaisen dort nach, über ihre Schicksale und die große Armut, in der viele von ihnen zuvor aufwachsen mussten, mache ihn das traurig und sehr wütend. „Gleichzeitig sind sie Glückskinder”, sagt er. „Sie bekommen durch Menschen für Menschen eine wahre Chance auf eine bessere Zukunft.“
Etwas zurückgeben
Ähnlich sieht das auch Aida Karl: „Ich hatte eine tolle Kindheit in Abdii Borii – inmitten all meiner Heimgeschwister.“ Die fröhliche 30-Jährige lebt heute mit ihrem Ehemann und ihrer zweijährigen Tochter in einem Mietshaus in einer ruhigen Nebenstraße Mettus. Sie arbeitet als selbstständige Buchhalterin für über 20 Kaffeehändler in der Stadt. Aidas Mutter starb während der Geburt. Ihr Vater, völlig geschockt von den Geschehnissen, brachte den Leichnam seiner Frau für die Beerdigung in das Heimatdorf zurück und überließ sein Neugeborenes einer Krankenschwester. Erst drei Jahre später kehrte er zurück, um nach seiner Tochter zu suchen. Doch die Pflegerin von damals arbeitete nicht mehr im Krankenhaus. Keiner wusste, dass sie Aida zunächst ins Heim nach Yayu gebracht hatte und das Mädchen mittlerweile in Abdii Borii lebte. Jahre vergingen, in denen auch Aidas Wunsch wuchs, mehr über ihre Herkunft zu erfahren.
Doch die Pflegerin von damals arbeitete nicht mehr im Krankenhaus. Keiner wusste, dass sie Aida zunächst ins Heim nach Yayu gebracht hatte und das Mädchen mittlerweile in Abdii Borii lebte. Jahre vergingen, in denen auch Aidas Wunsch wuchs, mehr über ihre Herkunft zu erfahren. „Ich wollte wissen, zu wem ich gehöre.“

Durch einen Zufall erkannten schließlich Bekannte des Vaters, die das Heim besuchten, in den Gesichtszügen der jugendlichen Aida die Mutter. Ein DNA-Abgleich bestätigte den Verdacht. „Als mein Vater nach all den Jahren vor mir stand, konnte ich es gar nicht glauben“, erinnert sich Aida. Mit ihm besuchte sie das Heimatdorf ihrer Eltern, wo sie Onkel und Tanten sowie einige Halbgeschwister erwarteten. „Ich habe sogar noch eine Großmutter“, sagt Aida und strahlt. Als sie vor fünf Jahren heiratete und im großen Speisesaal Abdii Boriis feierte, lud sie alle ein: ihre leiblichen Verwandten, ihre ehemaligen Geschwister aus dem Heim, die Erzieherinnen. „Ich bin dankbar, heute so viele Menschen meine Familie nennen zu dürfen“, sagt Aida. Ihr ist es wichtig, etwas von ihrem Glück weiterzugeben. Regelmäßig arbeitet sie daher ehrenamtlich in einem Altersheim. Sie kocht und putzt, sammelt Kleidung für die Bewohner oder verbringt Zeit mit ihnen. „Abdii Borii hat mich gelehrt, anderen zu helfen.“
Veröffentlicht am 9. Dezember 2024